Madeira – Die Blumeninsel
Das Gefühl beschleicht mich, die kleine Insel vor der Westküste Afrikas ist beim Tourismus noch nicht angekommen. Vielleicht will sie das auch nicht, ankommen. Denn ankommen bedeutet auch irgendwie aufhören etwas zu werden.
Ich lehne mich rüber zum Fenster und fühle mich klein, obwohl unten alles winzig ist. Winzige Wellen, winzige Boote, winzige Containerschiffchen und überall winzige weiße Pünktchen. Ich überlege, ob es Möwen sind oder winzige Schaumkrönchen. Mikroskopische Haiflossen? Meine Frau mit Fensterplatz schaut mich besorgt an. Ich lass mich in den Sitz fallen und versuche cool zu wirken.
Wie aus dem Nichts erscheint Madeira. Kurz vor der Landung kralle ich mich in die Armstützen meines Sitzes und muss eine davon mit meinem Sitznachbarn teilen. Die andere mit meiner Frau. Economy eben. Der mittelalte Mann wirkt angespannt. Meine Frau nicht. Die Hände des Mannes klappen ein Buch zusammen und wirken wie zum Gebet gefaltet. Den Titel des Buches kann ich nicht erkennen. Ich bin mir ziemlich sicher, viel hat er während der letzten vier Stunden nicht gelesen.
Es ist schon ein kleines Abenteuer, so eine Landung auf dem einzigen Flughafen Madeiras nahe der Hauptstadt Funchal. Weil die Insel sehr stark zum Meer hin abfällt, hat man einfach- grandioser Ingenieurskunst sei dank – die Start-und Landebahn förmlich an den Hügel gedübelt. Das was vorne überhängt, ruht auf gewaltigen Stützen im Meer. Wie bei Ikea. Sie ist kurz, verdammt kurz. Ein Grund, warum nicht jeder Pilot hier starten und landen darf. Ich denke kurz darüber nach, dann überlege ich mir, an wen sich ein Agnostiker in einem solchen Fall wenden kann.
Meine Beichte habe ich in den Wochen zuvor bei YouTube gemacht und jedes Video gesehen, das die für diesen Flughafen eskapadischen und notwendigen Kapriolen dokumentiert.
Ich schaue aus dem kleinen Bullauge und kann hinter der bulligen Turbine den Einwohnern auf den Mittagstisch schauen und falls wir durchstarten müssen, bleibe ich auch noch zum Dessert.
Aber der Pilot trifft den Anflugvektor beim ersten Mal. Kein „Pastel de Nata“ für mich. Touchdown. Volle Schubumkehr. Uns geht der Asphalt aus. Dann stehen wir. Mein Herz für einen klitzekleinen Moment auch. Wir steigen aus, überqueren den Asphalt. Schau an, wir hatten noch ein bisschen. Also Asphalt. Ich will Blumen riechen, die Namensgeber der Insel, vorerst lässt Kerosin keine weiteren Besucher in meiner Nase zu.
Schon der Blick aus dem Flugzeugterminal bietet ein spektakuläres Bild. Überall Meer. Jetzt bin ich bereit für viel mehr Meer. Doch zunächst müssen wir unseren Mietwagen in Empfang nehmen. Dank Corona kosten die inzwischen ein Vermögen. Wir hatten Glück, für uns nur ein kleines. Eine unabhängige Station bietet Wagen zu moderaten Konditionen an. Den Flughafen haben wir in wenigen Minuten durchquert. Schnell sind wir nicht, er ist klein. Und weil er das ist, haben nur die Großen hier ihre Anmietstationen. Der Rest hat sich ins Umland verlagert. Aber wir werden abgeholt, was soll’s.
Draussen vor dem Terminal werden Karten mit international klingenden Namen in der Luft geschwenkt als wollen sie Blumenduft verteilen. Einige Tablets und Smartphones sind auch darunter. Brave New World.
Unser Fahrer ist nicht darunter. Dann kommt er angezischt als wolle er hier landen. Reifen quietschen. Fachmännisch verfrachtet er unser Gepäck und das eines anderen deutschen Pärchens, das wohl den gleichen Reiseführer mit dem Tipp für günstige Mietwagen gelesen hat, in den Van. Der Reihe nach fragt er uns, ob wir schon mal auf Madeira waren. Der Reihe nach verneinen wir. „Welcome to Paradise“, sagt er. Hört sich für mich an, als ob wir gleich mit Marschgepäck im Schlamm robben und dabei Lieder singen müssen.
Der Mann wirkt getrieben. Während der Fahrt auf einer der wenigen Autobahnen palavert er irgendwas in sein Handy. Blechern tönt es zurück. Er schaut dabei auf die Hörermuschel als könne er die Person am anderen Ende sehen. Mir egal, hoffentlich schaut er auch mal auf die Straße und legt die Hände aufs Lenkrad, wenigstens eine. Der Asphalt wischt grau unter uns vorbei. Ist das noch Bodenkontakt oder fliegen wir schon? Dann schwarz. Wir sind in einen der zahlreichen Tunnel der Insel. Wo sich die alte Straße, die kaum für zwei Fahrzeuge Platz bot, noch vor Jahren wie eine Schlange um die Berge kräuselte, bohrt sich die neue „Via Rapida“ allenthalben wie ein Wurm durch den Apfel. Man kann noch die Bissspuren sehen. Nach etwa 20 Minuten sind wir da.
Bereits auf der Fahrt ist mir aufgefallen: keine Bausünden, keine Hochhäuser versperren den Blick, kein Hotelkomplex lässt Dich spüren, dass Du Urlaub brauchst. Die Stadt ist eng bebaut, aber alles fügt sich ins Stadtbild. Cristiano Ronaldo, der bekannteste Sohn der Hauptstadt und der gesamten Insel wird seinen Teil dazu beigetragen haben.
Jetzt setze ich mich ans Steuer unseres kleinen weißen Seat MII, für dessen Dimensionen ich im weiteren Verlauf unserer Exkursionen noch dankbar sein werde. Die Straße ist ein lebender Organismus, wir treiben wie ein weißes Blutkörperchen dahin. Das Gesetz der Straße ist simpel und besteht aus zwei Regeln. Erste Regel: Es gibt nur zwei Regeln, zweite Regel: vergiss alle weiteren.
Wir verlassen die Aorta über einen der vielen Kreisverkehre. Ponta do Sol liegt etwa 40 Autominuten westlich von Funchal. Wir stellen fest: auf Madeira wird in Minuten, nicht Meilen gerechnet. Daneben: Auch im Kreisverkehr gelten die erwähnten Verkehrsregeln.
In Ponta Do Sol konvergieren Straßen gegen Pfade. Und hier soll ein Auto durchpassen? Ich möchte aussteigen und anschieben. Nicht nur schmal, steil ist es. Nichts geht über den ersten Gang. Wirklich, es geht nicht. Rechts und links wachsen Bananen durch die Fenster, die hier überall kultiviert werden. Sanfte Meeresluft weht ihren Duft herein und bringt mich auf die Idee, einen Konzern zu gründen, der seinen globalen Erfolg salzigen Bananenshakes verdankt. Ich habe auch schon einen Namen – Basalt. Tolles Kofferwort. Apropos, wir sind da und laden unseren einzigen aus.
Unser Apartment ist vollausgestattet, voll gut und voll sauber. Der Balkon mit Südhanglage blickt über Bananenfelder und das Meer dahinter. Daneben Häuser und Kirchen. Die Straßen liegen gut versteckt.
Ich muss noch was aus dem Wagen holen. Eine Katzenmutter mit drei Kindern steht da. Das zweite Mal an diesem Tag macht mein Herz einen Aussetzer. Mutter ist selbst noch ganz jung. Die Kinder wissen, was sich gehört und bleiben auf Abstand. Weiß ich auch und nehme mir vor, Katzenfutter auf die Einkaufsliste zu setzen.
Levadas
Wir wollen wandern gehen. Dafür bieten sich auf Madeira die Levadas an. Das sind bereits im 15. Jahrhundert von kompetenter Menschenhand erdachte Kanäle, die Wasser aus dem von Regen und Luftfeuchtigkeit verwöhnten Norden in den trockenen Süden transportieren. Jeden Tag läuft so ein Levadero 10 Kilometer Plus um die Levadas auf Verunreinigung zu checken und mittels Stauklappen für eine gerechte Wasserverteilung zu sorgen. Keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Die Einwohner sind darauf angewiesen. Dem Wanderer bieten diese Wege und Pfade entlang der Kanäle dagegen spektakuläre Eindrücke.
In einem kleinen Café, in dem man auftanken kann
Schwer zu finden, diese Levadas. Gut eine Stunde fahren wir Google-Maps geführt scheinbar im Kreis. Nicht gut. Wir machen Stopp in einem kleinen Bergdorf mit Tankstelle. Nach der Quälerei braucht unser Wagen mal Sprit. Mein Gefummel am Tankverschluss lockt den Besitzer in die Sonne. Er dreht einmal, schon ist die Klappe auf. Ich verdrehe meine Augen und bedanke mich. Er lacht. Iza und ich folgen ihm in den Schatten. Jetzt brauch auch ich Flüssigkeit mit hoher Viskosität. Und die gibt es auf Madeira überall unverschämt günstig, unverschämt lecker. Wenn man mehr als 90 Cent zahlt, gilt das schon als Wucher. Ich bestelle einen Bica, einen klassischen Espresso. Mahlgrad, Extraktionszeit, Temperatur und Weichheit des Wassers. Alles stimmt. Ich habe keinen Refraktometer zur Hand, vertraue meinen fünf Sinnen. Und alle 5 bedanken sich bei mir. Die La Marzocco funkelt bis über beide Siebträger. Ich zwinker ihr zur. Ich zahle mit Apple Pay meine 80 Cent für einen Super Espresso plus 50 Euro für Super 95.
Wir fahren weiter. Diesmal überlasse ich Iza die Navigation. Hätte ich das nur von Anfang an getan, ich wäre um den Genuss des Bicas gebracht. Wir folgen einer Straße. Hier rechts ab, schreit Iza. Wo ist die Straße, schreie ich. Eingekeilt in einem steil nach oben führenden Fußweg habe ich alle Hände voll zu tun, unsere Vollkasko Selbstbeteiligung zu besänftigen. Man muss die Außenspiegel einklappen. Der Wind, das Meer, der Geruch von Blumen und Super 95, der Geschmack des Bicas, eben noch präsent, plötzlich weggespült vom Adrenalin, als mein Blick vom ständigen Rechts nach Links nach Rechts vorne aus der Reihe fällt. Das hier ist doch eine Straße, merke ich seltsam ruhig an. „We gonna need a bigger boat.“ Umgekehrt, Chief Brody. Iza schaut nach vorne. Vor uns braut sich was zusammen. Ein Pritschenwagen schaukelt uns auf der Straße, die eben noch ein Fußweg war, entgegen. Lustig tanzen rote Propangasflaschen den Mach-Platz-Tango. Wir werden zum Tanzen aufgefordert, aber für einen Sidestep fehlt der Raum. In letzter Sekunde quetschen wir uns mit unserem Seat in eine Wandnische. Der schaukelnde LKW zieht mit Gleichgültigkeit an uns vorbei.
Wir steigen aus und nehmen den Rest des Weges zu Fuß. Weit kann es nicht mehr sein. Eine Katze maunzt uns an. Sie liegt im Schatten und ist mit einer Leine an einer Tür angebunden. Ein alter Mann sitzt daneben und lächelt uns zu.
Wir quälen uns einen Berg hinauf
Es kann nicht mehr weit sein. Nach jeder Steigung kommt ein flacher Abschnitt. Danach geht es noch steiler bergauf. Intervalltraining.
Und da ist er. Unser erster eigener Levada. Unser Blick folgt dem Wasser bis zur Biegung links, niemand. Wir schauen nach rechts. Niemand. Welch eine Pracht! Herrlich! Grandios! Amazing! Awesome! Uns geht die deutsche Sprache aus. Iza murmelt noch etwas auf Polnisch bevor auch sie verstummt. Madeira ist wie eine Droge. Wie kommen wir da je wieder von runter?
Die Landschaft täuscht die Sinne. Oft wirkt es, als ginge man sanft bergab während uns Wasser entgegen fließt. Eidechsen sind Oberflächenspannungsakrobaten und Entspannungsexperten. Sie lassen sich treiben. Fische darunter. Überall tropft es, es plätschert, es berauscht die Sinne.
Wir tauchen in Wälder ein, die duften als hätte man Pfefferminzbonbons angepflanzt, durchqueren Höhlen, die so schwarz sind, dass sie das mickrige Licht unserer iPhones verschlucken, wandeln am sicheren Abgrund, der nicht sicher ist. Vor einem Wasserfall mache ich halt. Erst ein Foto, dann alles wasserdicht verpacken und durch.
Ich schaue auf meine Uhr. Über zwei Stunden sind wir unterwegs. Keine Gefahr sich zu verlaufen. Folge dem Wasser. Manche Levadas sind über 100 km lang. Ich mag das nicht in Zeit umrechnen, die wir dazu benötigen. Wir entschließen uns umzudrehen. Schon seit geraumer Zeit dreht ein Hubschrauber seine Runden. Irgendwo auf Madeira brennt es mal wieder. Verantwortlich werden unter anderem die Pfefferminzbonbonbäume gemacht. Der aus Australien importierte Eukalyptus wächst schnell und bietet gutes Holz, ist aber auch extrem durstig und trocknet die Umgebung aus. Wenn man aufmerksam schaut, kann man im üppigen Grün verbranntes Holz der Brände vergangener Jahre sehen. Wir bleiben stehen und drehen uns. Grün verwischt um uns. Kaum vorzustellen, dass bei dieser wassergetränkten Vegetation Brände entstehen können.
Und laufen ihn wieder herunter
Geschafft, 22 Kilometer. Wir kommen wieder am Punkt an, an der das Wasser die Straße kreuzt. Ein amerikanisches Vorzeige-Ehepaar kommt uns entgegen und sucht noch den Levada. Gut versteckt, die Dinger. Wir laufen die Straße hinunter.
Funchal
Wir wollen nach Funchal. Der Verkehrsfluss trägt uns in ungefähr 30 Minuten in die Hauptstadt der Inselgruppe Madeiras. Wir sind früh los, einen ganzen Tag planen wir ein. CR7 bestimmt die Hauptstadt. Cristiano Ronaldo überall. Da liegt es nahe, dass wir im CR7 Parkhaus am Hafen der Stadt parken. Direkt neben dem CR7 Museum und dem CR7 Hotel gelegen nebst CR7 Statur, zahlt man für einen Tag ungefähr 10 Euro Parkgebühr. Fair Play.
Die Hände zu groß, das Gesicht verkniffen. Dennoch lassen sich wohl hunderte Fußballfans jeden Tag vor Ronaldos Statur ablichten. Jeder will ihn wohl auch mal anfassen. Die Hände und der Schritt sind blankpoliert. Ein Junge gackert kindisch, als er ihm auch mal nicht an die Hände fasst.
Apropos, ich merke den Bica in mir. Auf Madeira sind Toiletten grundsätzlich frei zugänglich. Der Toilettengang ist hier Kultur. Das Gerücht, öffentlich zugängliche Toiletten, die zudem noch kostenlos sind, versiffen mit der Zeit, hält sich in Deutschland so hartnäckig wie, na ja, fester Stuhlgang. Bullshit ist das. Die Notdurft ist ein Gesetz der Natur, die Verrichtung ein Grundrecht des Menschen. An deutschen Raststätten wird es mit Füßen getreten. Aus Scheisse Geld machen und im Firmennamen Fairness betonen. Nach dem Toilettengang habe ich mich beruhigt.
Mercardo dos Lavradores
Zum Bauernmarkt strömen die Touristen. Er befindet sich unweit des Hafens. Ich überlege noch, was „unweit“ für eine hässliche Präposition ist, da stehen wir schon mitten im Trubel. Hier gibt es alles, was man aus der Erde, dem Wasser oder über den Tisch ziehen kann. Hier das Obst, da den Fisch und rundherum Touristen, zu denen wir uns natürlich auch zählen. Beim köstlichen Fensterblatt hängen auch wir an der Angel. Sieht aus wie eine Banane und schmeckt wie Ananas mit einem Hauch von Birne. Monstera Deliciosa.
Wir schieben uns durch den Laden zur Kasse. Auf der Theke steht ein kleines Aquarium mit kleinen Fischen mit kleiner Lebenserwartung. „Fish“, sagt die Frau hinter der Kasse. „No, thanks“, sage ich.
Fischhalle
Auf Madeira gilt der Degenfisch als Delikatesse. Mit langen Angeln wird er aus großer Tiefe geangelt. Die Angeln erreichen eine Länge von 1500 Metern. Durch Dekompression läuft der kupferfarbene Fisch schwarz an, wenn er aus dem Meer gezogen wird. Kein schönes Ende.
Probiert haben wir dennoch. Mit Banane serviert an einem Hauch Cadmium und Blei. Wir haben es dabei belassen. Es ist nicht gut für den Fisch und nicht gut für den Menschen. Vor übermäßigem Verzehr wird abgeraten.
Tourismushalle
Der Markt besteht aus zwei Stockwerken. Im oberen Stockwerk findet man eigentlich das gleiche wie unten, hat aber weniger Möglichkeiten den Händlern auszuweichen, weil der Platz in der Mitte fehlt.
Raus in die Stadt
Beim Verlassen der Markthallen bleiben wir an einer der sogenannten Azulejos stehen. Auf Madeira und dem portugiesischem Festland verzieren diese kunstvollen Keramikfliesen Gebäude und Straßen. Straßen- oder Marktszenen, wie im Bild unten, sind feuerfeste Zeitzeugen, regenfeste Geschichtsbücher. Man begegnet ihnen als Straßenamen und Häusernummern und natürlich als Souvenir für den geneigten Touristen. Ihren Ursprung haben sie in Spanien, die Azulejos, die Touristen springen von überall her.
Die schillernde Geltungssucht der Blechbüchsen-Sardine
Wir wollen die Stadt sehen, den Fenchel riechen, den Wein kosten. An die Sardine haben wir nicht gedacht. In Portugal ist der Büchsenbewohner ein Star oder vielmehr das Blech drumherum.
Wir betreten einen Laden, in dem sich die bunten Dosen wie Azulejos bis zur 5 Meter hohen Decke türmen. Um an die obersten zu kommen, muss man sie mit einer Leiter wie ein Buch vom Regal nehmen. Mann, sind die belesen. Die Büchsen hier haben kaum seltenheitswert. Sie sind Stellvertreter einer Kunstrichtung, die es so wohl nur in Portugal gibt. Die Exponate, die sich hier um uns herum aufschichten, sind alles Alltagsgegenstände, Kunstabzüge.
Die echten Schätzchen dagegen haben Sammlerwert und ich mag mir nicht vorstellen, wie es nach 100 Jahren im Inneren aussieht. Mumifizierte Fisch-Pharaonen in Öl. Der Sarkophag wird gehegt und gepflegt. Er ist bedruckt oder mit kunstvollem Papier umwickelt. Ab und zu sollte man so eine Dose allerdings auch mal öffnen. Selbst Mediziner raten zum Verzehr. Der Omega-3 Gehalt eines solchen Fischchens ist enorm, sie sind kaum mit Quecksilber belastet und die Gräten, die durch den Prozess des Einlegens gelieren sind hochwertige Calcium-Lieferanten.
Die Auslandsalkoholiker
Wir verlassen den Laden und gehen weiter. Madeirawein bekommt man überall. Im Restaurant, an der Tankstelle, im Supermarkt, im Convinience-Store und an der Strandbar. Blandy’s ist unser Ziel. Fest in Familienhand wird dort seit sieben Generationen Likörwein gekeltert.
Madeirawein hat es in sich. Zwischen 17 und 22 Vol. % rühren vom enthaltenen Branntwein. Ein Gerücht besagt, dass Seeleute den Gärprozess des Weines bei 96 Vol. % abbrachen um ihn für den Transport in den Tropen haltbarer zu machen. Was sie nicht ahnten: Durch das Klima reifte er auf besondere Weise. Geboren war der Madeirawein.
Wir möchten jetzt aber auch mal von dem Stoff probieren.
Wir stehen vor Blandy’s. Ein Laden wie ein Piratenschiff. Vor dem Laden ein rustikales Eichenfass. Im Schaufenster reiht sich Flasche an Flasche. Die Preise lassen mich erblinden bevor ich überhaupt einen Schluck getrunken habe. Wir verzichten auf einen Kauf. Ich glaube mich zu erinnern, dass unser Supermarkt in Ponta Do Sol eine kleine Auswahl hatte. Da erblindet man wenigstens erst nach dem Kauf.
Eine elegante Schlägerei
Wir gehen weiter. In einer Einkaufsstraße auf einer Bank sitzend verzehren wir Skyr und Joghurt. Ich knabbere an Maiswaffeln. Die Tauben freut es. Plötzlich nebenan Tumult. Zwei elegant gekleidete ältere Herren hauen sich auf die Sommerhüte. Die Frau des einen Mannes steht hilflos daneben. Der Herr ohne Frau zuckt mit den Schultern als kenne er keinen Grund dem Ehemann eine Beule in den Hut zu klopfen, tut es aber, weil ihm gerade nichts besseres einzufallen scheint oder weil es der Etikette entspricht. Dann trennen sie sich. Wutentbrannt zieht der Mann seine Frau hinter sich her. Sie dreht sich entschuldigend um, formuliert etwas mit den Lippen. Der Mann, der zurückbleibt, zuckt nur mit den Schultern. Wir auch. Ich beisse in meine Maiswaffel. Die Insulaner sind grundlos temperamentvoll.
Die beste Ausnahme der Regel
Pasta de Nata, das Nationalgebäck ist ein mit Pudding gefülltes Blätterteigtörtchen. Wenn man wie wir weitgehend auf Zucker und Süßzeug verzichtet, ist ein Pasta de Nata die beste Ausnahme der Regel. Es gibt sie bei jedem Bäcker und in jedem Café. Tipp: Oftmals werden sie in Verbindung mit einem Bica oder einer anderen Kaffeespezialität günstig angeboten.
Wir sind platt
Der Tag neigt sich dem Ende. Wir neigen zur Heimfahrt. Viel gesehen. Die See glitzert. Schiffe liegen vertäut im Hafen. Cristiano Ronaldos Hand und Schritt strahlen nicht mehr in der Sonne. Er liegt im Schatten seines ihm eigens gewidmeten Museums und wartet auf einen neuen glanzvollen Tag. Unser Mietwagenmann kommt mir in den Sinn. Langsam kaufe ich ihm das ab mit dem Paradies.
Das Parkhaus, das quietschte
Das Parkhaus hat einen Belag, auf dem die Reifen quietschen als werden sie gerade von den Felgen gezogen. Wir quietschen uns aus dem Labyrinth und werden eins mit der „Via Rapida“. Zu dieser Zeit fließt die Straße gemächlich dahin wie der Mississippi. Ich setze meine Sonnenbrille auf, die Hand am Ruder, die andere im Haar. Ich schwitze und weiß nicht, ob es die Hitze ist oder der Moment. Im Radio läuft Moon River. Ich schaue rüber zu Huckleberry Finn. Sie lächelt.
Seixal
Wir wollen an den Sandstrand. Viele gibt es nicht auf Madeira. Da kann man schwarz werden oder der Strand wird es für einen wie in Seixal. Madeira ist keine Badeinsel. Seixal liegt im Norden der Insel. Wir kommen uns wie auf einem anderen Planeten vor, dabei rührt der dunkle Sand vom vulkanischen Gestein. Faszinierend Spock! Wenn man wirklich mal den ganzen Tag in der Sonne rösten will, dann kann man hier dem Gefühl von Sonnencreme und Schweiss auf der Haut frönen. Und bitte nicht ins Meer pinkeln. Toiletten gibt es nämlich auch hier.
Vorher gehen wir aber noch in Port Moniz ins Wasser. Da leckt eine vor Jahrtausenden erkaltete Lavazunge am Salz des Atlantik. Tolle Naturschwimmbecken haben sich aus dem Lavagestein gebildet. Aber Vorsicht, die Zunge ist glitschig. Wir hatten Schwimmschuhe dabei. Sowieso ein nützliches Utensil für alle Steinstrände.
Steilgehen fürs Geilstehen
Wir wollen an den Klippen von Gabo Girao stehen, den höchsten Europas. Wir sind Thrillseeker. Wir wollen dorthin schauen, wo Kupfersulfat auf Marineblau trifft. Die endlose Weite und das weite Endlose spüren, die Essenz der Existenz erfahren wie nie ein Mensch zuvor. Kurz, wir wollen geil stehen für Instagram.
Unser Mietwagen quält sich die Asphaltstraße hinauf, irgendwo zwischen Funchal und Ponta Do Sol. Die Stairway to Heaven hat keine steinigen Stufen, sie ist gut ausgebaut.
Dann sind wir da. Die Furchtlosen. Busse spucken andere Furchtlose aus. Wir finden keinen Parkplatz. Ich schaue auf das kleine rote Display des Seat. Punkt 12 Uhr, werde ich noch später lernen, ist hier der größte Andrang. Ernüchterung macht sich breit wie all die menschenspuckenden und saugenden Busse. Alle wollen den Skywalk gesehen haben. Die Natur ist zweitrangig. Der Kick mit dem Selfiestick zählt.
Der Skywalk ist eine aus dicken Glasplatten an die Klippe geflanschte Bühne der Eitelkeiten. Hier kann man seine Nahtoderfahrung mit all den daheimgebliebenen Neidern teilen.
Momentan ist der Eintritt kostenlos. Installierte Drehkränze lassen tief blicken. Tief blicken wir dann auch mal durchs Glas. Schummerig wird es mir. Iza bleibt cool.
Wenigstens ist der Kaffee hier teurer. Das spart den Gang zu den kostenpflichtigen Toiletten. Die Klokatze passt auf, dass jeder zahlt. Für 50 Cent lässt sie sich streicheln. Irgendwie hat sich der Ausflug dann doch gelohnt.
Die höchste Erhabenheit
Wir wollen den Pico Ruivo besteigen. 1862 Meter hat die Rote Spitze. Ich spüre noch jeden in den Waden. Wir starten vom Parkplatz der Achada do Teixeira. Ok, ich hab ein bisschen geschummelt. Der Wagen hat schon 1592 Meter für uns gemacht, hat die Wolkendecke durchbrochen. Bleiben noch 270 Höhenmeter netto für uns. Brutto sind es mehr, denn es geht auf und ab. Wer hier nicht aufpasst, für den geht es nach „ab“ nicht mehr „auf“. Wie Bergziegen bewegen wir uns voran. Bockig.
Die Kamera zieht an meinen Schultern, die Aussicht am Atem. Zerklüftete Landschaften, ein Fels wie ein Affenkopf, der über das Wolkenmeer schaut. Ich möchte mich gerne als Held präsentieren, aber die Wege sind auch für ungeübtere Wanderer zu schaffen. Die Flip-Flops sollten allerdings zu Hause oder im Wagen bleiben.
Kurz vor der Spitze verschnaufen wir an einem Rasthaus. Drinnen gibt es Kapselkaffee und Tourismus-Tand. Wie die das alles hier hoch transportieren?
Die Haptik des Polaroids
Auf dem Gipfel kann man nichts als staunen. Ein junges Pärchen bittet uns ein Foto der Szenerie zu machen. Kein Problem. Halt, mit dem Pärchen im Vordergrund. Ach so. Ich mühe mich, alles in in den Rahmen eines Soforbildes zu quetschen. Es ist mir scheinbar gelungen, sie bedanken sich und gehen. Kann auch sein, dass sie einen anderen fragen.
Wir gehen zurück. Auf dem Parkplatz surrt eine Drohne über uns hinweg. Wir haben über die Anschaffung nachgedacht und sind zu keinem Schluss gekommen. Was, wenn wir nichts als austauschbare Videos damit produzieren? Auf YouTube ertappe ich mich bei jeder Reportage und schreie: Drohnenshot. Andererseits wird aber auch die Fotografie mit jedem Klick austauschbarer. Gibt es irgendetwas, was noch nicht in einem beliebigen Winkel festgehalten wurde? Ich denke wieder an das Gipfel-Pärchen. Zurück zum Polaroid vielleicht. Alles schon mal dagewesen. Kunst iteriert. Und warum sollte ich es nicht als Kunst bezeichnen, wenn ein Pärchen einfach nur gemeinsame Erinnerungen festhalten möchte, wie ein Polaroid, das man anfassen kann, über das man streichen kann, das in der Sonne verbleicht aber nie verblasst?
Hiermit möchte ich mein persönliches Polaroid abschließen. Ich halte es in die Luft und schüttele daran. Die Konturen verschärfen sich und langsam wird ein Bild daraus.
Ein Bild von Madeira, wie es vielleicht wirklich war.