Dortmund – Blick in die Heimat
Ich blicke auf meine Heimat wie in den Rückspiegel. 7 Jahre Autofahrt liegen hinter mir. Dann kam Berlin, jetzt Freiburg. Die Scheibe ist verschmutzt. Scheibenwischer an, aber die Sicht verklärt. Alles verschwimmt in Wischerlösung, -20 Grad winterfest.
Erinnerung auf Wasserbasis
Neurologisch nennt man das fluide Erinnerungen. Mit Alkohol hat das nichts zu tun, obwohl manche da wohl gerne nachhelfen. Schlechtes geht den Bach hinunter. Eine Schutzfunktion um die mentale Verfassung zu wahren und nicht in einem synaptischen Feuerwerk kosmischen Wahnsinns weggespült zu werden.
Die Erinnerung, für die wir sie halten, existiert also nicht, oder? Unser Denkapparat ist ein Künstler, der die Straßen der Synapsen mit Spielertricks unterhält. Immer wieder mischt er das Kartendeck neu.
Negative Erinnerungen werden verdrängt. Wir kennen das ja: „Früher war alles besser.“ Eine schöne Erinnerung ist Pleonasmus.
Aber wie ist das? Macht nicht der bloße Glaube daran die Erinnerung echt? Konstruieren wir mit unserer Wahrnehmung Realität? Ich denke, also war ich?
Wenn ich mir die 50er oder 60er Jahre des 20. Jahrhunderts vorstelle, sehe ich sie schwarzweiß mit Bildkörnung. Ich sehe statischen Bildaufbau. Ich höre das Knistern. Alles gemächlicher. Sparsame Kamerafahrten.
Die 70er und 80er sind magisch. ET, die Goonies, Ghostbusters und Star Wars, damals noch Krieg der Sterne. Die 90er poppig bunt und erstmals in 3D und Voxelgrafik (siehe Novalogics Commanche)
Und brutal sind sie: French Connection, Rambo, Dirty Dancing.
Erinnerungen werden zu Zelluloid im Kopf und Zelluloid zur Metonymie kollektiver Erinnerung. Erfahrungen, Erlebtes, Gefühltes, Gesagtes.
Genug.
Dortmund ist ein Film, der eine Wiederaufführung verdient.
ParkLeit Express 80×286
Ich erreiche Dortmund und checke ein. Ich werde gefragt, ob ich Frühstück dazu buchen wolle. Ich will es mir noch überlegen, entgegne ich. Ich bekomme zwei Nummern. Zimmernummer und Pin. Dann nochmal zwei. Siebte Etage oder sechstes Obergeschoss. Kann ich mir überlegen, kommt aufs gleiche raus. Was sich eben schöner anhört.
15 Minuten vorher. Dortmund gehen die Parkplätze aus. Deswegen hat sich die Stadt wohl entschieden ein neues Parkleitsystem zu installieren, um zu zeigen wo Dortmund die Parkplätze ausgehen. Und die Designer. Service in Leuchtdioden-Optik der 90er assembliert. Mit 4 Farben-Sprites. Nah am Metall programmiert wie man damals so schön sagte.
Nah an Metall auch bei mir. Ich schubse den Seat in die letzte Parklücke Dortmunds, nehme meine Sachen, gehe zum Hotel, stehe an der Rezeption mit Rucksack und Koffer und denke über die Relation von Obergeschoss zu Etage nach und ob Sprites damals 4 Farben hatten. Außerdem: Wo gibt es Kaffee?
Den Fahrstuhl nehme ich nur einmal. Jetzt. Das Zimmer ist zum Übernachten ausreichend, mehr nicht. Es ist sehr sauber, worauf ich Wert, drapiert mit dezentem Teppich, worauf ich meine Sachen lege.
Tatort Phoenix West
Ich schaue auf die Sieben-Segment-Anzeige meiner Casio. Gleich geht der Tatort los. Nicht im Fernsehen, auf Phoenix West. Meine Schwester hat Tickets im Rahmen der Dortmunder Filmnächte ergattern können. Im gleichen Rahmen wird dort der neuste Tatort uraufgeführt, auf Leinwand-Rahmen und vor Stahl-Rahmen der Industrievergangenheit.
Ich disassembliere vom Seitenstreifen und fahre los. Als ich ankomme, stehen meine Schwester und ihr Mann, der auch Ansgar heißt, schon dort. Sie winken mir zu. Zusammen mit 80 anderen Leuten, die da stehen und mir nicht zuwinken.
Ausgebucht und freie Platzwahl. Wir sind früh dran und bekommen gute Plätze und Decken. Jörg Hartmann ist auch schon da, und andere Schauspieler, deren Namen ich nicht kenne. Es sind natürlich Stefanie Reinsperger und Rick Okon. In weiteren Rollen Andreas Schröders und Wolfgang Rüter.
Es ist Jörg Hartmanns Drehbuch-Debüt. Er gibt sich locker und Interviews, unterhält sich mit Gästen und hat sichtbar Spaß.
Die Leute drumherum essen ausgelassen Pommes Frites und trinken Bier. Ich frage mich, wie man ausgelassen essen kann. Ich bekomme keinen Kaffee! Dann nehm ich Wasser.
Auf Leinwand liegend auf Plastik schauen
Auf Liegestühlen warten wir die Dämmerung ab. Um 21 Uhr geht’s los. Der Tatort wird auf einer riesigen aufgepusteten Plastikwand gezeigt. Komisch, denke ich. Hier sitze ich auf Leinwand und gucke auf Plastik. Heute, da immer größere Fernseher in den Wohnzimmern stehen, kann man Fernsehen im Kino sehen. Die Bildsprache in Zeiten von Netflix und Game Of Thrones hat sich der des Kinos genähert. Kein 4:3 mehr. Kein Blocking auf engstem Raum. Schuss, Gegenschuss nicht in 08/15, sondern 16:9. Film ist ein externes Medium, bestimmt durch äußere Handlung. Mit Muskeln, machmal ohne Hirn. Die technischen und damit einhergehenden ökonomischen Fortschritte haben es befreit, haben das Storytelling liberalisiert. Show, don‘t tell! Ist dadurch die Intimität der Erzählung verloren gegangen? Ich vermute nicht.
Linear wird der Dortmunder Tatort erst 2023 erstausgestrahlt. Ich habe in meinem Leben vielleicht drei Tatorte gesehen und frage mich, ob das der richtige Plural ist. Einen Schimanski, zwei aus Dortmund. Wenn es hoch kommt auch einen mit Hansjörg Felmy in der Wiederholung. Das hier wird mein vierter sein, oder fünfter nach Felmy-Zeitrechnung. In sich abgeschlossen kann ich ihm folgen, auch wenn sich die Charakterbögen über mittlerweile zehn Jahre spannen, teilweise überspannen. Ich werde kein Fan vom Tatort, mag diesen hier aber sehr. Meine “Suspension of Disbelief“ wird strapaziert, ich bleibe drin. Zuviel Drama kondensiert auf zu wenige Charaktere, auch damit kann ich leben. Larger than life! Nennen wir es Kino!
Feuerwerk mit Fietzebohnen
Mehr Lokalkolorit ist drin. Zweimal Comic Relief und einmal Fietzebohnen, hömma. Die Leiche wird zur Nebenfigur degradiert und könnte McGuffin heissen. Ein die innere Handlung vorantreibendes Plotdevice.
Zwischendurch Zwangspause. Das Lichterfest schleudert feinstes Feuerwerk ins Firmament. Zu hell für den Tatort, wo es doch gerade so dunkel am zweiten Plotpoint pivotierte. Es geht weiter. Man entscheidet sich, den Punkt zu wiederholen, der in der Serie, ich glaube, soviel darf ich verraten, mit dem Klang zusammenschlagender Bierflaschen eingeläutet wird. Ich kenne nun den Täter und er sitzt einige Reihen vor uns.
The Art of Abspann
Der Tatort endet abrupt. Nein, die Geschichte ist abgeschlossen. Er hätte einen Nachspann verdient. Ich finde, es gibt eine Kunst des Abspanns. Als Kind habe ich den Abspann geliebt. Er beendet den Film und führt ihn irgendwie weiter. Er ist das letzte Satzzeichen, ein Punkt, das Ausrufe- oder Fragezeichen. Ein Komma beim Franchise, selten ein Semikolon. Filminterpunktion. Man kennt das ja. Viele Namen und ihre Funktionen im Hollywood-Abspann. Da jeder Mitwirkende und die Putzkraft genannt werden, vielleicht gewerkschaftlich geregelt, läuft der Abspann, und läuft und läuft und läuft. Damit das nicht die Zuschauer tun, gibt es zwischendurch Outtakes, Post-Credit Scenes, Post-Post-Credit Scenes, animierte Titel. Beim Tatort erwarte ich das nicht. Aber Rolling-Title mit End-Credits Musik. Die Sendezeit sollte es wert sei oder ein paar Gigabytes der Mediathek. Come on, ARD, alle Mitwirkenden haben es verdient.
Die Moderatorin ergreift Gelegenheit und Mikrofon. Die Lautsprecher schleudern Dankesformeln und Hülsen in die Industrieszenerie unter Sternen. Die Scheinwerfer Licht auf die Empore. Sie hat leichtes Spiel, auch wenn sie bei Schauspielernamen stolpert und bei Bemerkungen verschämt. Geschenkt. Den Elfmeter versenkt sie. Das Publikum schreit Tor. Es herrscht ausgelassene Stimmung. Der Tatort hat gewonnen. Heimspiel.
Schauspieler zum Anfassen
Die Schauspieler sind allesamt super aufgelegt, nehmen sich Zeit für jeden einzelnen Fan. Reden, Fotos, Lachen. So eine Nähe hat man selten. Hartmann ist nicht Faber. Was ein Glück.
Ich fahre ins Hotel und auf dem Ostwall ist die Hölle los. Endlich mal wieder die Sau rauslassen. Cannonball Fever nach Corona Virus. Nix für mich. Ich will keine Schweinegrippe.
Die Krümel des Knäckebrots
Am nächsten Tag. Allein im Frühstücksraum. Stimmen wie zur Hintergrundbeschallung rauschen in Schleife. Das Bild fehlt, zu sehen ist niemand. Langsam denke ich, ich bin es wirklich. Alleine. Egal, neben Kaffee wird alles zur Nebensache. Haferflocken und Knäckebrot zum Beispiel. Nehme ich mir trotzdem. Es graut bereits. Draussen ziehen Autos und Menschen vorbei wie in diesen alten Filmen, wo alles von hinten auf eine Leinwand geschmissen wird. Ich muss vorne nur noch agieren. Die Kaffeemaschine zerbeisst Kaffee und spuckt eine Brühe aus, als seien es Fietzebohnen. Jetzt graut es mir auch. Macht nichts, richtigen Kaffee bekomme ich bestimmt später noch. Ich bleibe ruhig und nehme einen Schluck. Das Knäckebrot zerbröselt in meiner Faust. Einige Gäste strömen tröpfchenweise in den Frühstücksraum und hinterlassen Müdigkeitspfützen auf dem Linoleum. Dann, es gibt sie doch: Angestellte! Sie grüssen mich, rennen links und rechts an mir vorbei. Es könnten Projektionen sein, Hingeschmissene. Niemand fragt nach meiner Zimmernummer, niemand erkundigt sich nach meinem Namen. Ich lese die Krümel meines Knäckebrots auf wie einen Roman von Stephen King, nehme mir noch eine Kiwi und gehe.
Kurz kommt mir in den Sinn, dass mir das Frühstück nicht berechnet wurde. Niemand fragte mich. Geschenkt!
Die Kompassnadel zieht es schließlich auch zum magnetischen Norden, darf da meine nicht auch mal ein paar Grad vom geografischen abweichen?
Ein Fusel namens Church
Zusammen mit Ivonne und Ansgar fahren wir zur Kuhbar in der Saarlandstraße. Meine Nichte wartet dort auf uns. Mit dem Quad ist sie irgendwie schneller.
Nach Eis, Wasser und Kaffee gucken wir in Schaufensterläden wie in die Vergangenheit, weil hinter dem Fenster die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.
Wir cruisen durch das Kreuzviertel und lokalisieren Drehorte des Tatort. Auf den Spuren von Jupp machen wir das Fusel ausfindig, das eigentlich Church heißt, und wo es bestimmt nicht die besten Fietzebohnen der Stadt gibt, weil es gar keine gibt, aber einen grünen Eingang hat.
Der Eingang zum Westpark ist auch grün mit Holzpilz und spielt im Film eine Rolle.
Jörg Hartmann und Oberbürgermeister Westphal haben sich dafür eingesetzt, dass aus Tatort Dortmund, Drehort Dortmund wird.
Kindheitserinnerungen in Sojasauce
Mit meiner Schwester streife ich durch die Stadt. Sushi, Kaffee, Lütgenau. Kindheitserinnerungen in Sojasauce. Dazu einen Espresso im besten Café der Stadt wenn man mich fragt. Flayva. Ich möchte einen Americano, der ohne Wasser, dafür aber mit noch mehr Kaffee verlängert wird. Irgendwie ein doppelter Espresso mit einem Ristretto als Finisher. Ich bekomme ihn. Die Krümel des Knäckebrots habe ich mittlerweile verdaut.
Lütgenau ist eine Kindheitserinnerung auf zwei Etagen. Oben war ich oft. Da gab es Modelle, Lego und glänzende Augen. Danach kam der Abstieg. Auch für Lütgenau. Vor ein paar Jahren dann der Räumungsverkauf. Ich war noch einmal dort und kaufte mir eine Enterprise. 1701 ohne Buchstabe und Schnickschnack.
Später die Erleichterung, Lütgenau bleibt. Wiederum etwas später, Lütgenau macht dicht. Ein Auf-und Ab auf stürmischer See. Ein kleines Plastik-Piratenschiff im Online-Malstrom. Der Hellweg, ein Höllenweg.
Flusstour
Wir treiben ihn wie zwei Bötchen entlang. Dort wo Osten- und Westenhellweg kumulieren, hat sich eine Menge getan. Nicht immer zum Besten. Wer braucht eigentlich soviel Barbiere? Sind wir in Sevilla? Und überall Gestrandete. Ab und zu eine Insel der Hoffnung. Neben der Reinoldikirche ein Blumenmeer. Jetzt nehmen wir die berühmte Krüger-Passage, in der selbst Hardy Krüger schon weltenbummelte. Bücher Krüger existiert schon lange nicht mehr. Meine zweite Heimat. Die Heimat in der Heimat. Bücher über Bücher. Als Kind und Jugendlicher verbrachte ich dort eine Menge Zeit. Alles vorbei.
Die Mayersche hat die Seiten gewechselt. Weniger Platz für weniger Bücher und mehr Netflix. Das ist schade. Was wird aus dem großen Gebäude gegenüber, das nun leer steht? Ich stehe an der Kasse und denke, wirklich schade! Die Verkäuferin gibt mir Bon und Buch und ich gehe.
In da Hutt
Meine Schwester zieht mich in einen Laden.
„Komm, das muss ich dir unbedingt zeigen!“
Eine Verkäuferin weisst uns freundlich daraufhin, dass um 18 Uhr geschlossen wird, also in 10 Minuten.
„Guck mal, wieviel Uhr es ist“, sagt meine Schwester.
„17:50 Uhr?“
„Nee, guck mal!“
Tatsächlich, bei Betten Hutt über dem alten Tresen inmitten der Auslage hängt immer noch die Uhr, die vor 30 Jahren dort hing und wahrscheinlich auch 30 Jahre davor. 17:51 Uhr. Zumindest die Batterien haben sie mal gewechselt. Obwohl, selbst eine kaputte Uhr geht zweimal am Tag richtig. Beim Rausgehen sehe ich alte Schilder mit rosa Schrift, die bestimmt mal rot waren.
Beim Hutt fallen schon die Gitter zu. Wir schaffen es. Jetzt haben wir noch 8 Minuten für Hilgering. Der beste Wein- und Spirituosenhändler der Stadt. Alles ist so vertraut als wir den Laden betreten. Vielleicht liegt es am guten Wein, der alles zu konservieren scheint, auch die Inhaber. Wir holen Cannonau.
Thier-Gallerie
Jetzt ziehe ich mal meine Schwester in einen Laden. Bluebrixx, der blaue Klemmbaustein-Himmel in der Thier-Gallerie. Die ‚Bird of Prey‘ aus der Star Trek Reihe zieht schon lange ihre Kreise am Horizont meiner Begehrlichkeiten. Da steht der Raubvogel und sieht geil aus.
Faszinierend, sagt meine Schwester im Spock-Tonfall, meint aber den ganzen Rest des Ladens. Wir unterhalten uns mit den Angestellten, die gerade ein Schloß zusammenbauen, nicht zum Schließen, zum Belagern. Ich weiß nicht, ich weiß nicht, aber der Laden wird immer besser. Es gibt Schreibmaschinen mit beweglichem Schlitten, Blumen, Raumschiffe, Berge, Autos und das Brandenburger Tor. Reihen von Klemmbausteinen zum Abwiegen. Figuren mit Maschinengewehren und Lächeln im Gesicht neben solchen mit Zigarre im Mund und Blumen in der Hand.
Die Tautologie der Erinnerung
Langsam muss ich mich auf den Weg machen. Ich verabschiede mich und steige in den Wagen. 500 Kilometer liegen vor und tausend schöne Erinnerungen hinter mir. Ich denke über die vergangenen Tage in Dortmund nach. Hier im Blog habe ich sie festgehalten, hier kann ich sie lesen und stelle fest, dass eine schöne Erinnerung nicht zwangsläufig Pleonasmus ist. Der Ritt auf dem weißen Schimmel.