Korsika – die Schöne
Sagen sie. Heiß ist sie auf jeden Fall. Und erstaunlich grün. Nicht braun oder grau, und das alles im späten August. Aber der Reihe nach. Meine Aviophobie nötigt meinem Gehirn die Entscheidung ab, es mal mit der Fähre zu versuchen. Ich kann meine Frau überzeugen. Meine Frau und ich sind – das haben maritime Ausflüge auf indischem Ozean, Mittelmeer, Ärmelkanal und Nordsee bewiesen – seetauglich ersten Grades. Auf der Überfahrt nach Helgoland esse ich noch dickflüssige Erbsensuppe während Dünnflüssiges vom oberen Deck gegen die Außenseite des Restaurantfensters sprüht. Auf meinem Löffel schwimmen kleine Bröckchen umher; Erbsen, so hoffe ich. Der Smutje hätte auch einfach den Topf aus dem Kombüsen-Bullauge halten können.
Erstmal Genua
Aber wir sind nicht auf der Nordsee und schon gar nicht auf dem Weg zur langen Anna. Wir sitzen im eigenen Auto auf der Fahrt nach Genua, Italien. Dort haben wir vor, die Stadt zu erkunden, bevor es dann drei Tage später nach Korsika geht. Also, lass gehen …
Die wilden Alpen, wilde Autofahrer, ein Stau vorm Gotthard Tunnel, die nicht ganz so wilde Schweiz und zahlreiche Mautstationen auf 561 km trennen die italienische Hafenstadt von Freiburg und ich beginne zu verstehen, warum Hannibal auf Elefanten setzte und auf einem saß. Würde er heute die Alpen in einem Wohnwagen überqueren? Mit Camping-Toilette und in Boxershorts? Wir dagegen setzen auf unseren Seat Leon ohne Toilette oder dessen Surrogat, die Klorolle auf der Hut-Ablage. Überhaupt die Klorolle, geschützt vor Sonne und Generationen fremder Blicke mit geschickt gehäkelter die Notwendigkeiten verbergender Grausamkeit. Als ob es da einen Preis zu gewinnen gäbe. Gab es das so nur im Ruhrgebiet der 80er?
Kurz vor dem Gotthard machen wir Halt. Ich lasse mir einen stilisierten Hartkernholzapfel für ein Bild von der Rübe schießen. Tell me why?
Wir fahren weiter und über den Pass. Der Stau vorm Tunnel verheißt Wartezeit. Besser 30 Minuten Umweg, als auch nur die Hälfte der Zeit wie Frösche auf der Herdplatte zu hocken. Mittels Google Maps und anderer GPS gestützter und auf Basis mannigfaltig diskreter mathematischer Modelle basierende Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts entscheiden wir uns für die Befahrung des Gotthardpass.
Strahlend blauer Himmel. An Kehren des Passes haben sich Händler breitgemacht, Souvenirs und Lebensmittel feilbietende Nomaden der Berge. An ihren Ständen baumeln Schinken und Würste an langen Schnüren und Honiggläser funkeln wie Edelsteine in der klaren Bergluft. Auf durchschnittlich 5,5% Steigung kommen uns auf dem schmalen Asphaltband neben Autos und Motorbikes auch wagemutige Radfahrer mit engem Latex und noch engerem Blick entgegengestürzt.
Dann schlägt das Wetter um. Über den Kamm pustet Gott seinen kondensierten Atem. Wir scheiteln auf 2107 m. ü. M. Hier oben hat man das Gefühl auf einem fernen Planten zu sein. Es geht wieder hinab. Also sprach Zarathustra und schaltete in den dritten Gang zurück.
Unten wieder strahlend blau. Quinto, Prato, Pronzo. Namen wie römische Legionäre. Wir kreuzen und kreuzen den Luganersee. Dann Como. Mailand kreuzt auf, wir ziehen vorbei. Wir machen Halt an einer Tankstelle, an der man per App sein Fahrzeug über eine Webcam beim Warten zuschauen kann. Ist das noch DSGVO?
Wir schlängeln uns an einigen Bergen des Appenins entlang, dann plötzlich fällt der Blick auf Genua. Die Strasse fällt herab, wird zur Hochstrasse, die direkt über die Hafenanlage führt. Fährschiffe liegen auf Augenhöhe, während weit unten kleine Boote im Becken schaukeln. Vor lauter Staunen fast die Ausfahrt verpasst. Ab in irgend ein eisenträgerstarrendes Loch in der Erde. Jetzt geht es direkt durch den Bauch der Altstadt. Uns umschwirren die Motoroller wie die Tie-Fighter während unser Millenium Falke durch die Eingeweide vom Todesstern 2.0 saust. Irgendwo vor uns summt der Reaktorkern der Stadt. Wieder an der Oberfläche: Menschen, Maschinen, Metronom des Lebens. Mehrmals umkreisen wir unsere Unterkunft der nächsten Tage. Parkplatz? Fehlanzeige!
Wir halten an einem Seitenstreifen und steigen aus. Der Schatten des Polizeipräsidiums macht die Hitze erträglich. Verdächtig, die rote Markierung auf dem Asphalt. Aber schließlich steht doch schon ein anderer Kleinwagen dort. Und jetzt gesellt sich noch ein weiterer hinzu. Zwei Personen darin. Ich nähere mich vorsichtig der Beifahrertür. Die Frau blickt durchs Fenster, die Scheibe fährt herunter. Ich frage auf Englisch, ob es hier ohne weiteres erlaubt sei, zu parken, bemühe mich, es nicht wie eine Anklage klingen zu lassen. Der Mann auf der Fahrerseite kramt in seiner kleinen Tasche auf seinen Oberschenkeln herum, sortiert sich und antwortet gelassen: „Only for the Police“.
„Are you from the Police?“, frage ich ihn. Ich bemerke, dass sich seine Hand irgendwann während unseres kleinen Gespräches zur Faust geballt haben muss. Handrücken auf Oberschenkel. Langsam öffnet sie sich. Die Polizeimarke sieht aus, wie aus einem Kaugummiautomate. Ich glaube, sie ist echt. Die Hand schließt sich wieder. Ich entschuldige mich und frage so höflich wie möglich, wo es einem unwürdigen Autofahrer wie mir möglich sei, parken zu können. Ich möchte ja nicht, dass die Zacken des Sterns seine Handfläche perforieren.
Sehr freundlich und mit präzisen Angaben weißt er auf ein Parkhaus hin. Ich bedanke mich. Er scheint nun endlich gefunden zu haben, wonach er die ganze Zeit suchte. Er und seine Begleitung steigen aus dem kleinen Fiat. Wir blicken ihnen noch eine Weile hinterher. Da möchte ein Beamter in seiner Freizeit mit seiner Frau an einem schönen Freitagnachmitag shoppen gehen, und dann sowas.
Ich möchte hier nur wenige Worte zu unserer Unterkunft verlieren. Keine Klimaanlage, stattdessen ein laut rotierender Deckenventilator. Das zum Zimmer gehörige Bad nur über den öffentlichen Flur erreichbar. Der Mann vom Hotel weißt uns drauf hin, immer abzuschließen. Die altersschwache und für das gesamte Haus zuständige Wasserpumpe befindet sich direkt an der zu unserem Zimmer angrenzenden Wand des Gemeinschaftshofes und meldet sich lautstark bei jeder Benutzung. Nach einiger Zeit kann ich genau sagen, wer hier duscht oder nur Katzenwäsche betreibt, ob es Schwierigkeiten mit der Verdauung oder der Prostata gibt. Keine Kaffeemaschine weit und breit. Kein Kühlschrank. Nur die Gewissheit die nächsten 3 Tage der Benutzung des Zimmers möglichst durch Erkundung der Hafenstadt aus dem Weg zu gehen. Das sollte nicht schwer fallen, wie wir kurz darauf erfahren.
Genua
Genua, die Stadt, von der Christoph Kolumbus einst schrieb, er sei hier geboren und Historiker später, dass er recht hat. Ungefähr 1451.
Erster Stern von rechts und dann immer der Nase nach
Ich gebe zu, unvorbereitete Pilgerer in einem von der UNESCO gekrönten Welterbe sind wir. Wir gucken uns erst alles an und später dann nach, was wir alles gesehen haben. Erster Stern von rechts und Immer der Nase nach. Ok, Hauptstadt der Region Ligurien, das wissen wir. Auch, dass die Stadt einstmals das Zentrum der gleichnamigen Republik war. Überall zeugen noch heute Kirchen und andere Prunkbauten vom Reichtum der ehemaligen Handelsseemacht. Bei der Kathedrale aus schwarz-weiß gestreiftem Marmor muss ich an Trockenkuchen denken und bekomme spontan Durst auf Kaffee.
Wenn es einen Preis für die Stadt mit den schmalsten Gassen gäbe, würde sich Genua zumindest irgendwo zwischen die ersten zehn Plätze quetschen. Denn mit Quetschen kennt sie sich aus. Alles auf engstem Raum. Hier schaut der Nachbar von Gegenüber dem anderen beim Essen zu. Hier teilen sich mehrere Familien einen Fernseher. Man muss sich nur darauf einigen, in welcher Wohnung der Fernseher steht und was man schaut.
Bei den meisten Altstädten im Mittelmeerraum frage ich mich immer, ob die im 15. Jahrhundert schon wussten, wie breit so ein Fiat 500 einmal werden wird, oder warum so ein Gefährt mit zumindest eingeklappten Seitenspiegeln durch die mit Kopfstein belegten Gässchen passt? In Genua dagegen haben nur Roller eine Chance, und dann nur die mit eingeklappten Fußrasten. Hier muss Fahrerin oder Fahrer die Beine anziehen und über den Lenker legen. Geübtere können sich auch auf den Sattel stellen, müssen dann aber aufpassen, dass ihnen die gewaschenen Schlüpfer und BHs nicht feucht aufs Visier klatschen.
Die Stadt als Selbstzweck
Irgendwo habe ich mal gelesen, Genua sei die große Unbekannte Italiens und auch bei vielen Menschen nicht auf dem Muss-man-mal-gesehen-Tourismus-Radar, überstrahlt von Städten wie Mailand, Pisa oder Venedig. Nur ein kleiner Punkt auf der Karte zwischen Festland und den Mittelmeer-Inseln. Wenn das so ist, warten hier verdammt viele Menschen auf ihre Einschiffung nach Korsika, Sardinien usw. Glaube ich irgendwie nicht, aber weil Glaube was für die Kirche ist, kann auch was dran sein. Dann macht die Stadt eben auf diese Weise Werbung für sich. Bei uns hat es geklappt. Wir werden jedenfalls wiederkommen um Genua zu sehen und nichts als Genua. Genau!
Porto Antico
Das eigens für den von Roman Polanski gedrehten Film „Piraten“ erbaute spanische Linienschiff ist seetüchtig und könnte, wenn es denn wollte, die Weltmeere unsicher machen. Mit fünf Knoten, das sind neun Kilometer pro Stunde. Nach Ende der Dreharbeiten beschloß die Filmgesellschaft das Schiff zu erhalten. Heute beherbergt die Neptun ein Filmmuseum, was ein wenig hochgegriffen ist. Im Innern und am Oberdeck kann man die 70 Kanonen (ich hab nicht nachgezählt) bewundern, die hohl klingen wenn man dagegen klopft. Faszinierend ist, dass selbst feinste Intarsien und Reliefs in großer Detailtiefe vorhanden sind, die so im Film garantiert nie zu sehen sind. Informationen zum Film oder dessen Entstehung sucht man hier allerdings vergeblich.
Direkt nebenan befindet sich das Acquario die Genova, das zweitgrößte Aquarium Europas. Touristen-Ströme zieht es zu den Ticketschaltern vor dem Gebäude. Wir reihen uns ein. Eine freundliche, aber unverständliche Stimme sickert durch die Nudelsieb-Lautsprecher. Einige Italiener verlassen darauf hin die Schlange. Dann noch einmal alles auf Englisch. Erst in zwei Stunden wird der nächste Schwall Menschen ins Aquarium gepumpt. Wir möchten nicht so lange warten und verzichten ebenfalls auf einen Besuch.
Fürs Erste sagen wir Genua Lebewohl. Wir tun es nicht, ohne uns einen Espresso Doppio in einen der vielen schönen Cafés zu genehmigen. Dann holen wir den Wagen aus dem Parkhaus – ich freue mich ihn wiederzusehen – und machen uns auf zum Hafen.
Konfus hier. Der Mann an der Ticketkontrolle versucht Smalltalk und entschuldigt sich für’s Wetter. Dafür kann er ja nichts. Wir sollen uns auf Lane 5 einsortieren. Umringt von Fähren und Schiffsdiesel warten wir auf dem Parkdeck auf unsere Einschiffung. Jemand pappt ein Ticket mit Barcode auf die Windschutzscheibe. Wir schauen uns um. Über eine Fußgängerbrücke besuchen wir das angeschlossenem Einkaufszentrum. Ein Mann verliert seine Mütze im Wind. Wir trinken zwei Espressi. Keine weiteren Vorkommnisse.
Als wir zurückkehren, müssen wir uns durch eine mittlerweile stattlich angewachsene Blechlawine zum Auto kämpfen. Wenig später ergießt sich alles in den Schiffsrumpf. So weit so gut. Später auf See werde ich mich noch fragen, ob ich die Handbremse angezogen habe.
Sieben Stunden später schippern wir die Ostküste Korsikas vom Norden kommend entlang in Richtung Bastia. An Oberdeck grinsen alle das Festland an. Wahrscheinlich weil der Wind allen so hart ins Gesicht fährt. Mir kommen auch schon die Tränen. Unser Schiff läuft im Hafen ein. Das Heck beschreibt jetzt mittels Steuerungsdüsen einen Kreis. Eine Stimme säuselt zusammen mit Schiffsmotor und Wasserrauschen eine Kakophonie in den Wind. Doch alle verstehen und eilen zu den Ausgängen als drohe das Schiff jetzt noch unterzugehen.
Im Bauch des Schiffes vibriert es. Es zittert. Jemand hustet. Ich frage mich, in welchem der Autodecks unser Wagen steht. Dann Stille. Dann noch mal die Stimme. Die Türen zu den Orlopdecks entriegeln sich. Mein Gedächtnis funktioniert photogrammetrisch. Anhand unterschiedlichster Sinneseindrücke, die ich zwischen Verlassen unseres Fahrzeugs und oberen Decks scheinbar willkürlich synaptisch umklammert habe und jetzt kontextuell rekonstruiere, dirigiere ich zum Auto. Meine Frau hat sich Nummer und Farbe des Decks gemerkt. Wir kommen zum gleichen Schluss.
Der Navi ist kein Camper
Die Verkehrsführung Bastias bietet dem Autofahrer die Möglichkeit, zahlreich vorhandene Kreisverkehre mittels Unterführung zu umgehen. Wegen Einsparrungen und damit die Löcher im Boden keine ins Haushaltsbudget reissen, beschränken sich die Unterführungen auf eine bestimmte Durchfahrtshöhe. Welche genau, hab ich vergessen. Ich weiss aber, dass ein Camper nicht durch passt. Autos bleiben auf der Straße stehen und Passanten, die da gewiss nichts verloren haben. Sie alle schauen die Unterführung hinab. Wie ein spätkubistisches Werk ragt das vom Wohnwagen abgezogene Dach in die Höhe während die Schaulustigen klassizistisch barock drumherum stehen und gaffen. Unten stehen die unversehrten aber sichtlich geschockten Insassen des Fahrzeugs. Glück im Unglück, obwohl ein glücklicher Urlaub anders ausschaut.
Der Himmel blau, die Sonne brennend, haben wir noch 60 Kilometer vor uns. Es ist bereits dunkel, als ich die Sonnenbrille abnehme, dann ist es noch mal für eine halbe Stunde länger hell. Wir erreichen Marine de Bravone gegen 21 Uhr.
Der geheimnisvoll profilarme Whatsapp!-Mann ohne Gesicht
Die kleine für Touristen angelegte Anlage ist nicht ganz das, was wir uns vorgestellt haben. Eine für Touristen ans Meer gebaute Sammlung kleiner Bungalows. Aber sie ist neu und unser Appartement liegt fast direkt am Meer. Das finden wir aber erst nach einer Schnitzeljagd, zu die uns unser Kontaktmann, der sich in den kommenden 10 Tagen ausschließlich per Whatsapp oder booking melden wird, einlädt. Kein Profilfoto auf Whatsapp, keine Fotos, keine Identität. Nur Anweisungen, geheimnisvolle Fotos einer Wegbeschreibung und ein Name. Anstatt uns die Hausnummer mit dem Hinweis „Ende der Straße“ zu geben, schickt er einen Schwall an Fotos, die ich ausdrucken könnte um ein Daumenkino daraus zu basteln.
Die erste Nacht fechte ich einen aussichtslosen Kampf gegen eine Heerschar von Mücken. Und ich werde ihn auch alle folgenden Nächte verlieren. Dafür, dass wir hier so nah am Wasser residieren, ist unsere Wohnung leidlich gegen die Mückenplage ausgestattet. Bis in die 1950er Jahre war Korsika noch Malariagebiet. Besonders die Ostküste war unter Anopheles-Mücken sehr beliebt. Bis das amerikanische Militär 1944 damit begann, systematisch Insektizide zu versprühen. Die Anopheles-Mücke zog sich schmollend zurück.
Wanderungen, die durchs Mark branden
Korsika bietet aber nicht nur feinste Sandstrände, und Meer, das daran brandet, sondern auch Berge und dazugehörige Wanderwege, die fürchterlich durch Mark und Bein branden.
Wir gehen mal wieder einen Berg hinauf
Alles beginnt wie üblich mit der Idee, dass wir uns ein bisschen bewegen wollen. In solchen Fällen ziehe ich mein Handy heraus und befrage Komoot. Die sicherlich bei vielen nicht unbekannte App schlägt mir einige Wanderungen in der Nähe vor. Schwierigkeitsgrad ‚Leichte Wanderung, keine besonderen alpinen Kenntnisse erforderlich, gutes Schuhwerk‘, lautet paraphrasiert die Zusammenfassung einer Route zum Monte San Petrone. Knapp 15 Kilometer? Easy. Ich rechne mit 3 1/2 Stunden entspannter Wanderung über moosbedeckte Waldwege.
Es geht über Stock und Wurzel und einen für das ungeübte Auge kaum erkennbaren Pfad den Berg hinauf. Alles brennt. Wir sind alleine. Das macht uns keiner nach. Auf den Offline-Karten meiner App wähne ich uns schon dem Ziel nahe.
Da plötzlich Stimmen. Mein Geist spielt mir einen Streich. Es kann nicht sein. Ich hab mir mein Gehirn auf dem Weg nach oben weggeschwitzt. Doch da, es darf nicht sein. Den Weg haben wir uns doch ganz alleine erkämpft. Vor uns auf einer Lichtung rennen Kinder umher und deren Eltern – so deduziere ich messerscharf – sitzen auf Steinen oder stehen herum, aber alle lachen. Ja, sie lachen. Ich wische mir den Schweiß aus dem Gesicht, doch nichts ändert sich. Wie haben die das gemacht?
Vor uns das Gipfelkreuz, das bei näherer Betrachtung nur eine auf einen Pflock genagelte und auf den in der Ferne liegenden Gipfel nebst echtem Kreuz weisende Latte ist, so als wolle uns das Holznebenerzeugnis verhöhnen. Hier also hat man mein Brett vorm Kopf zur Schau gestellt. Auch mein Ego soll noch eine besondere Rolle spielen, denn je dünner die Luft, desto mehr bläht es sich auf. Ich will da jetzt rauf.
Kopf in den Wolken
Irgendwann hat meine Frau aber vielleicht ein Loch hinein gepiekst ins EGO. Denn hier oberhalb der Baumgrenze, nahe dem „real“ Gipfelkreuz ergreift mich Beklommenheit. Es sind nur noch wenige Schritte zum Kreuz. Wolkenfetzen wie tibetanische Gebetsfahnen neben uns. Die deutschen Familien von eben scheint der Wind ebenfalls hergetragen zu haben. Der Vater mit riesigem Rucksack, auf dem in einer Art Kabine ein Kleinkind vor sich hin döst. Es schwankt von rechts nach links über den Bergkamm auf dem Weg zum Kreuz. Die übrigen Kinder springen derweil von Stein zu Stein. Die Luft bei mir ist raus. Ich mach das nicht. Hier oben könnte uns ein Windstoß, ganz sich aber archaische Angst erfassen. Existenzängste. Nicht sowas, wie wenn man Post vom Finanzamt erhält, eher von der Bank.
Tut mir leid. Diesen „Briefumschlag“ öffne ich nicht. Der Ausblick hier unterhalb des Kreuzes ist auch atemberaubend. Wir müssen dann auch wieder zurück. (seufz) Also schnappe ich mir einen Stock und zusammen gehen wir den Berg wieder runter. Bei meiner Frau sieht das irgendwie eleganter aus, ohne Stock.
Nach 5 1/2 Stunden stehen wir wieder an unserem Wagen. Die Sonne brennt. Die Waden brennen. Meine Lungen tun es. Meine Frau lacht. Ich nicht so.
Die Gelassenheit der Schweine
Auf Deutschlands Autobahnen kann man sie antreffen. Auf Korsikas Schnellstraßen auch. Nie zuvor bin ich aber einer so großen Anzahl dieser Exemplare, wie auf den schwindelerregenden und korkenzieherschmalen Gebirgspässen dieser Insel begegnet. Lichthupe und Drängeln bringt nichts. Gemütlich überqueren die Paarhufer die für ihr Befinden eigens für sie planierte Fahrbahn, drehen um, erinnern sich, dass sie in die andere Richtung wollten, setzen sich, führen Schein- oder Showkämpfe aus oder lassen sich herab und gucken herüber.
Diese Gelassenheit wünsche ich mir von unseren Schweinen in Deutschland. Einen Gang zurückschalten, tief durchatmen und grunzen.
Korsika – die Widerspenstige?
Die Vendetta gehörte hier lange zu einem ungeschriebenen Gesetz. Einschusslöcher in Strassenschildern zeugen von der Unzufriedenheit der Leute mit der Regierung in Paris. Den Wunsch nach Unabhängigkeit kann man noch auf den Handtüchern ablesen, die hier überall in den Souvenirshops ahnungslosen (zumeist vom Festland stammenden französischen) Touristen feilgeboten werden. Vermummte und bis an die Eckzähne bewaffnete Comic-Schweine mit Partisanen Abzeichen sind darauf zu sehen. Grimmig schauende Borstentiere auf T-Shirts, darunter der Schriftzug Resitenza. Erst auf den zweiten Blick fällt die ganze Ernsthaftigkeit dahinter auf. Der Kampf der Wildschweine gegen einen übermächtigen Obelix.
Partisanen Nippes
Es ist der Versuch, auf selbstironische Art, den Freiheitsgedanken mit Nippes in die Welt zu tragen. Auf Korsika wird aus sanftem Tourismus sanfter Widerstand.
Da der Großteil der Jugend aber mangels Entwicklungsmöglichkeiten der Insel den Rücken kehrt, um in Paris das Glück zu suchen und viele von ihnen erst im Rentenalter zurückkehren, doppelte Ironie.
Napoleon schaffte es allerdings nie zurück. Ein Treppenwitz der Geschichte, dass hier sein Leben auf einer Treppe den Weg nach unten vorzeichnete.
Korsika – die Schöne?
Hier kann man im Meer baden, während man in den Bergen Skilaufen kann. Hier trifft archaische Lebensart auf Modernität und Gastfreundschaft, Tourismus auf Anarchismus.
Und leider auch Mücke auf Mensch.
Aber ja, Korsika ist schön.