Gaming

Earthworm Jim

Was tun bei einer Infektion?
Arzt aufsuchen?
Abwarten?
Ab ins Reformhaus?
Anlassbezogen!
Kommt auf den Infekt an! Und bei Würmern?

Reform ist in Da’House, denn in den letzten Jahren grassiert verstärkt der Retrogaming-Virus. Es packt jene, die mit den Spielen der 80er und 90er Jahre das Jumpen und Runnen perfektionierten, und hüpft über auf den Nachwuchs, der das Springen und Laufen nie richtig erlernte.

Sowieso, die 80er als hüpfendes Spiel der Massenhysterie. Strange Things: halbgetönte Vollgesichts-Brillen, Polster in den Schultern, CDs in den Playern, Mario, Sonic und Maniac Mansion im kollektiven Gedächtnis. Kulturaneignung der eigenen Vergangenheit.

Als aktiv an den 80ern teilhabend konsumierendes Kind weiß ich, wie es wirklich war und blicke durch die Lochstreifenmaske des Kathodenstrahls wie durch die Brille in EGA Grafik. Rosa in 16 Farben.

Wenn mich die Nostalgie-Wehen plagen, greife ich zur Selbstmedikation. 8-Bit Pixelbrei und 16-Bit Zäpfchen auf Rezept. Nicht alles war für den Arsch. Einige Spiele sind in Würde gealtert, denn Nostalgie und Vergangenheitsbeweihräucherung ist per se kein Verklärungsmechanismus.

Da Mutationen des Retrogaming-Viruses vielfältig sind, bietet der Markt ein passendes Mittelchen für jedes Symptom. Denn merke, wir wollen nicht die Ursachen bekämpfen, huldigen wollen wir ihnen. Es gilt aus zwei Mitteln zu wählen.

Das Remake

das mit Versatzstücken vergangener Zeiten neu erschaffene Werk.
Gefahr: Sich an der durch den Filter der Moderne neu aufgebrühten und entkoffeinierten 80er-Aufguss-Plörre den Mund zu verbrennen. Haupsache heiß. Dafür durchsichtig und einfach zu durchschauen. Wie bei Starbu**s. Danach keinen Bock mehr auf den echten heißen Scheiß von vor 30, 40 Jahren.

Das Replay

der ungefiltert koffeinhaltige Augenöffner. Du kannst den Boden nicht sehen. Das echte Zeug. Kein Remake. Kein Karamel-Sirup. Keine Pixel-Art, sondern Systembegrenzung. Keine Speicherfunktion, sondern Rücksetzpunkte. Kein an die Hand nehmen. Nicht für jeden. Und draußen nur Kännchen.
Den Staub von den Kontakten des Mega Drive-Moduls geblasen und los geht es. Wahlweise den Emulator angeschmissen. Echte Gamer kleben sich für diesen Fall ein 1-Meter-Kabel ans Bluetooth-Gamepad und hocken sich vor den Röhrenmonitor.
Gefahr: Die falsche Röstung zu erwischen und einzusehen, dass die 80er verbrannt sind und da hingehören, wo sie herkommen: in die 80er.

Choose wisely!

Ich hab mich für das harte Mittel entschieden, hab mich an das Replay gewagt, genau genommen an Earthworm Jim. Genau genommen aus 1994. Genau genommen ist Jim ein Regenwurm, der im Vorfeld des Spieles in den unbeabsichtigten Besitz eines ihn zu einer Kampfmaschine mit zwei Armen und zwei Beinen verwandelnden Superheldenanzuges aus dem All kommt.

Gekommen um zu bleiben

Für mich war Jim der Magenbandwurm einer Ära: gekommen um zu bleiben. Als perfekter Wurmfortsatz der 90er trieb er die 80er Jump’n’Runs in die Spitze – genug der Wurmwitze, versprochen – auf die Spitze!
Earthworm Jim ließ beide Jahrzehnte fulminant zu einer sich selbst in den schwanz beißenden Schlange werden. Das erste Mal traf hier nämlich ein Hersteller, namentlich Playmates Toys, Hersteller von Action-Figuren aus der feststofflichen Welt auf Plan und Entwickler Shiny Entertainment aus der softwaretechnischen Welt.
Die Genese beider Welten zu einem allumfassenden Merchandising Universum rund um Earthworm Jim. Die Verschmelzung zweier Epochen. Clash of the Titans. Für latzhosentragende Klempner ein Schlag ins Schnauzbartgesicht.

Die etwas mehr als 7 Tage des Regenwurmes

Das geschah natürlich alles nicht an 7 Tagen. Earthworm Jim von Shiny war nur als anstoßendes Element gedacht, gleichzeitig aber das erste Projekt der Softwareschmiede.
So richtig viel wurde daraus dann nicht mehr. Earthworm Jim 2 machte vieles besser als der Vorgänger. Danach portierte sich Jim noch durch so manches System: Game Boy, Game Gear, Super NES, faule Äpfel waren auch dabei, und aus dem Wurm wurden teilweise richtige Gurken. An die Erfolge der ersten beiden Teile konnte er nie wieder anknüpfen, die Action-Figuren haben es bis auf wenige Exemplare nicht in die Nuller-Jahre geschafft.

In medias res

Ich spiele. Ohne langes Vorgeplänkel geht es richtig los. Nichts wird erklärt. Tutorial? Fehlanzeige. RTFM! Tl;dr! WTF?
Jim ist ein harter Brocken. Das Spiel ist sauschwer, die Level kurz und knackig. Jim startet mit drei Leben. In den Leveln sparsam verteilte Zusatz-Inkarnationen plus noch sparsamerer Continuous-Punkte lindern den Schmerz.

Jims Spacegun hat eine begrenzte Anzahl von Schüssen. Bei Null lädt sie sich gnädiger- und gemächlicherweise auf 100 Schuss auf. Viel bringt’s nicht.

Jim kann mit seinem eigenen Körper peitschen. Dann packt er sich am eigenen Kopf, zieht sich der Länge nach aus dem Kragen und kann waagerecht, diagonal oder senkrecht den Gegnern den Garaus schlagen, oder wahlweise an durch im Spiel funkelnde Haken kenntlich gemachten Stellen hin und her hangeln.
Das alles ergibt Sinn. Vollkommen evident. Der Raumanzug und Jim ergeben eine symbiotische Einheit.

Pingelige Pixel

Für eine Sekunde lässt mich die Kollisionsabfrage der Sprites den erkenntnistheoretischen Anteil eines empiristischen Nachweises vergessen und die Kollisionsabfrage meiner Konsole mit der Zimmerwand rein praktisch in Erwägung ziehen.

Da beiss ich lieber ins Gamepad und Jim mal wieder ins Gras. Das Scheiß-Spiel verzeiht nichts. Es geht um jeden der wenigen Pixel. Plötzlich können es gar nicht wenig genug sein.
Ich muss von diesem Haken an den nächsten schwingen, um von dort an den nächsten zu gelangen. Die Schwierigkeit nimmt mit jedem Vorsprung exponentiell zu.

Das Spiel, der Endgegner

Bei den Boss-Fights variiert der Schwierigkeitsgrad. Pumpe ich beim amboßspuckenden Mülleimer noch Myriaden von Energiestrahlen ins Blech während ich vom Himmel fallenden Holzblasinstrumenten ausweichen muss, ist Evil the Cat – ich nenne sie Lewis weil sie so grinst – nach neun Treffern erledigt. Ihre Augen erscheinen, ich ballere drauf bevor sich ihr Körper materialisiert, sie schwebt zum Himmel und zwei Feuerwellen, über die ich springe, rollen über den Bildschirm. Das ganze neunmal, fertig! Moment, warum nicht siebenmal? Felis ist angelsächsisch.

New Junk City – Bossgegner

Die Level sind mit keiner mir herzuleitenden Logik verknüpft. Jim schliddert über Müllhalden, geht durch die Hölle und Unterwasserwelten. Man reitet auf wilden Köpfe von Hunden abbeissenden Hamstern und stellt sich Anwälten, nur beherrschbar, indem man ihnen zunächst die kugelabweisende Aktentasche aus der Hand wurmschnalzt und dann mit der Space-Wumme Plasma vor den Schlips knallt. Anwälten begegnet Jim, na klar, nur in der Hölle.

An einer frühen Stelle des Spiels katapultiert man eine Milchkuh mittels Kühlschrank in eine niedrige Umlaufbahn, was wiederum erst in einem späteren Level wichtig wird.

Am Ende jeden Levels schließlich zückt Jim seine Taschenrakete und düst zum nächsten Schauplatz. Gelegentlich verschlägt es ihn dabei in die Bonus-Stage ‚Andy Asteroids?‘. Dort tritt man gegen Jims Erzfeind Psy-Crow in einem Rennen an. Gut, wenn man gewinnt.

Einfach nur Sprites

Das alles sieht wunderbar aus. Die Sprites wurden handgezeichnet und dann eingescannt. Dabei lässt es sich verschmerzen, dass das Jim-Sprite nur eine Seite kennt. Wenn er sich umdreht, ist er gespiegelt und trägt die Kanone plötzlich in der anderen Hand. Was soll’s? Genretypisch für die Zeit. Dafür gibt es tolle Idle-Animationen. Jim bläst sich den Wurmkopf weg, seine Hose rutscht und sein rosagepunkteter Schlüpfer leuchtet hervor oder spontane Hypertrophie lässt Jim zum ungrünen Hulk werden.

Trödelt man gerade nicht herum, scrollt der Hintergrund, wie es sich für die Zeit gehört, in mehreren Ebenen parallax. Nicht gerade butterweich. Bei PAL nur in 50Hz (25 Bilder/sec), bei NTSC in 60Hz (30 Bilder/sec).

Gekommen um zu bleiben?

Irgendwie. Earthworm Jim lebt weiter in den Eingeweiden der Game-Industrie, tief eingegraben im geronnenen Schlick der Videospiel-Ursuppe. Spuren seiner DNA finden sich auch in modernen Spielen.

Jim spiegelt das Bewusstsein eines im Erwachsenenalter an ADHS diagnostizierten Jungen der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts wider. Meines! Vielleicht habe ich ihn deshalb in mein Herz geschlossen.
Wild, kontextlos, frei-assoziierend, schnell, ineffizient. Fokussiert wie eine Plasma-Gun auf Streufeuer. Daneben wie eine Kuh in der Umlaufbahn.
Jim hat keinen Plan und den verfolgt er.

Stürmen, wo Engel furchtsam weichen

Jim, der Ausnahmeheld. ‚Fools rush in where angels fear to tread‘

Mein Held der 90er. Das Spiel kann ich heute noch spielen, verweichlicht wie ich bin, mit den Annehmlichkeiten des Emulators. Speichern, zurückspulen.

Ich verneige mich vor denen, die es durchgespielt haben,
Ich verneige mich vor der Kreativität der Entwickler,
Ich verneige mich vor einem Studio, das wie aus dem Nichts eine Ikone erschuf,
Ich verneige mich vor Jim,
Und vor allem verneige ich mich in Ehrfurcht!

Groovy!!!!

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