Deutschland, Österreich, Tschechien, Polen und zurück
In meinem Blog komme ich sehr häufig auf Kindheitserinnerungen zurück. Vielleicht, weil ich mittlerweile Strecke auf dem Asphalt des Lebens zurückgelegt habe.
Ein berühmter Mann hat einmal gesagt: “Es sind die nicht die Jahre, es ist der Kilometerstand, Schätzchen.“
Ich glaube, es war Indy und er hatte recht.
Auch jetzt wird wieder am Kilometerstand gedreht, aber rückwärts. Wir fahren nach St. Anton am Arlberg. Übersättigte Postkartenmotive mit kobaltblauen Bergen unter marineblauem Himmel kommen mir da in den Sinn. Bahngleise wie von Märklin gehirnwinden durch meinen Kopf, umgeben von smaragdgrünen Wiesen, auf denen Kühe meine Erinnerungen wiederkäuen. Kleine Bauernhöfe, niedliche Hütten, Bahnhöfe, vor die man kleine Plastik-Frauen und Plastik-Männer gepappt hat und noch kleinere Plastik-Kinder daneben. Sie alle warten auf etwas. Ganz bestimmt nicht auf die Züge. Niemand steigt je ein noch aus wenn der Zug hält. Hier gibt es kein Ankommen, keine Wegfahren. Ist das hier Limbus oder Himmel? Ich will es herausfinden. Meiner Frau liege ich schon seit Jahren in den Ohren, den Ort meiner Kindheit zu besuchen. Ein Sommerurlaub mit meinen Eltern, der nie verging und schon so weit zurückliegt, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie er es dennoch fertiggebracht hat zu vergehen.
Da wir die Familie in Polen besuchen, bietet es sich an, auf dem Weg dorthin einen nostalgisch-neurologischen Zwisschenstopp einzulegen. Sozusagen den Kilometerstand zurückzudrehen.
Wir fahren nach St. Anton am Arlberg
284 km sind es von Freiburg in die Vergangenheit. Zunächst machen wir aber Stop an der Deutsch-Österreichischen Grenze am Bodensee, an einem scheinbar vollständig aus Holz bestehendem und von besonders nachhaltig veranlagten Außerirdischen geparkten Ufo mit Dach, das, wie sich herausstellt auch Super 95 und Kaffee verkauft.
Den Kaffee und anderes bestellt man an einer im Zentrum gelegenen und sich an das Bogenmaß des Holzrondells orientierenden Theke. Ich bekomme eine Plastikkarte und Kaffee. Wir trinken die Vollautomaten-Plörre. Draussen schlägt feiner Regen an die Fenster, mir der Kaffee fein auf den Magen. Mit der Plastikkarte umkreisen wir die Theke und geben sie an der Kasse ab.
Fast da. Wir fahren durch einen Tunnel, dann durch den nächsten und dann durch noch einen. Der hört gar nicht mehr auf. Es ist der Arlbergtunnel. Ich wundere mich noch. Keine Mautgebühr? Weit gefehlt. Abgerechnet wird zum Schluss. Der Tunnel spuckt uns direkt vor eine Zahlschranke. 11 Euro kostet die Durchfahrt. Zusätzlich zu den Mautgebühren auf österreichischen Straßen.
Ich lege die Bilder meiner Erinnerungen von St. Anton auf die Eindrücke vor mir und sehe die Farben der Postkartenfotos meines Vaters wie durch Pauspapier hindurch scheinen. Wir haben schlechtes Wetter erwischt. Die Alpen liegen im Nebel.
Eine enge Straße windet sich den Hang hinauf. Rechts und links Hotel Garni Dies, Hotel Garni Das, bevor sich endlich Hotel Garni Falch vor unseren Augen erhebt. Nebelfeuchtes Holz, organisches Material, das zu atmen scheint und aus schwarzangelaufener Maserung auf uns hinunterblickt. Der Balkon im ersten Stock umläuft im breiten Grinsen das Gebäude mit Zähnen aus morschen Planken. Ich lasse den Wagen ausrollen bis er stehen bleibt. Dann lehne ich mich etwas vor. Ich will wissen, ob das Ding wirklich Luft einsaugt und wieder ausstößt, sich der kompakte Körper knirschend hebt und senkt. Ich warte. Nichts dergleichen, obwohl man den holzigen Atem riechen kann. Ich lächle. Uriges Ambiente, denke ich und lasse den Wagen anrollen bis er knirschend auf dem feinen Schotterparkplatz direkt neben dem Eingang stehen bleibt.
Alles ist still hier. Wie in einem Fußballstadion in der Winterpause. Nicht, dass ich schon mal bei einem Fußballspiel war. Aber nach der Saison ist vor der Saison, dazwischen ist Pause. Ich hätte die Warnungen der Hotelinhaber nicht in den Wind schlagen sollen. Niemand ist hier und wir betreten den Rasen und wollen spielen. Eine Woche zuvor bekam ich per Mail den freundlichen Tipp, wir könnten immer noch kostenlos stornieren.
Wir sind natürlich die einzigen Gäste des Hotels. Beim Einchecken erkundigen wir uns nach den Frühstückszeiten. Das richte sich ganz nach uns. Möchten Sie nicht etwas später? Der flehende Blick ist mir nicht entgangen und jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, uns dem Personal aufgedrängt zu haben, das sicher auch mal Ruhe braucht.
Wir streifen durch den Ort. Kein Restaurant, ja nicht einmal einer der vielen Shops streut gedämpftes Licht auf den Gehweg. „Wir freuen uns auf die Wintersaison“ steht auf kleinen Zetteln hinter Schaufensterscheiben. Wer soll das lesen? Ist ja keiner da. In der Ferne hören wir dumpfes Kuhglockengeläut. Einige Wiederkäuer mampfen phlegmatisch und geben Wehlaute von sich. Die Gipfel darüber liegen im Nebel wie eine Daunendecke über allem. Die wird erst wieder Mitte Dezember gelüftet. Eine letzte Dönerbude verteidigt tapfer gastronomisch dieses Dorf am Ende der Welt. Doch für wie lange noch? Der Betreiber sitzt auf einer Bank vor dem kleinen Laden und guckt gelangweilt auf sein Handy. Im Hintergrund dreht gelangweilt der Dönerspieß.
Als ich den für uns gedeckten Frühstückstisch am nächsten Tag erblicke, wächst mein schlechtes Gewissen auf Zugspitz, na ja zumindest Arlberg-Niveau. Ich fühle schon den Schnee auf den Schultern. Die herzliche Art der Inhaber bringt die Schneeschmelze und den ersehnten Kaffee, den wir gestern nicht mehr bekamen.
Wir wollen wandern gehen. Und da wir nicht so genau wissen, wohin, schauen wir in eine ausliegende Karte und tippen mit unseren Fingern auf eine Stelle. Edmund Graf Hütte. Dieses aristokratische Häuslein wollen wir uns anschauen. Ein leichtes!
Die Berge des Wahnsinns
Geistig unausgeglichen mit zunehmender Zerrüttung des Verstandes kämpfend, quälen wir uns dem blasphemischen Grauen, was dort vor uns im vom Nebel umhüllten Gipfel auf uns lauern mag, entgegen. Diese urkosmischen Mächte bemächtigen sich des Verstandes, zehren an ihm. Mögen wir nicht dem infernalischen Wahnsinn anheim fallen wie zuvor jene, die wir in unermesslicher Eitelkeit und dem blinden Vertrauen an Technik und Verstand glaubten nacheifern zu können.
Ich notiere an diesem Tage: ‚Es ist der 9. Oktober 2022. Die Teilnehmer machen sich bereit für das letzte Teilstück des vor uns liegenden Unbekannten. Unter uns tost ein reissender Bach, sinngebend für all unsere davon gespülte Hoffnung. Das namenlose Grauen tastet nach uns mit gierigen Fühlern in der Nacht. Es streicht über die Zeltwände. Es sind nur die Äste, rede ich mir ein. Es hilft nichts. Jeder kann es spüren, wenn die Dunkelheit aus finsteren Winkeln wie unnatürliches Efeu rankt, und niemand wagt es auszusprechen, sobald uns das fahle Licht des Tages empfängt. Wissend blicken wir uns an und sehen die schrecklichen, unausgesprochenen Mutmaßungen in den Augen des anderen. Es ist nichts Lebendes dort oben, und nicht Lebendes darf benannt werden.‘
Dr. Kossowski blickt auf ihr Handy. Ich blicke auf meins. „Nicht mehr weit. Hinter der nächsten Biegung.“
„Sicher?“
„Ganz sicher“, beteure ich und blicke schnell wieder aufs Display.
Ich gehe voraus. Auch wenn ich von den Bergen des Wahnsinns verschluckt werden sollte, ich will das Geheimnis der Edmund Graf Hütte lüften. Auf dem vor mir liegenden Pfad ist nur Platz für mich und mein Ego.
Endlich! Google Maps erklärt das Ziel für erreicht. Ich drehe mich um. Kahle Steine, hier und da widerstandsfähige Flora, etwas Wasser, etwas Schotter. In der Ferne ein Schreien, das ich für eine Krähe halte. Aber keine Hütte!
Fast rutsche ich auf Kuhscheisse aus. Ich setze mich auf einen Stein, der sich nass anfühlt weil er kalt ist. Was machen wir hier bloß in dieser Hämorriden begünstigen, von Kühen zugeschissenen Einöde? Ein Gedanke, den ich nicht akzeptiere, aber auch nicht ignorieren kann.
Dr. Kossowski nähert sich.
Seien wir schlauer als Dyer und Danforth und kehren um. Am Ende des Tages schauen wir auf unsere Uhren: 21 km. Ich notiere: ‚Weniger H. P. Lovecraft lesen.“
Wien
Nachmittags kommen wir in Wien an. Hotel Caroline liegt etwas außerhalb der inneren Stadt. Ein freundlicher Mann, der aussieht als bastele er sich jeden Morgen die schwarze Haarmasse mit der Heißklebepistole an den Schädel, begrüßt uns und klärt alle Formalitäten.
Gepäck lassen wir im Foyer, den Wagen im Parkhaus zwei Blocks weiter. Zurück im Foyer, nehmen wir unser Gepäck und schließen die Check-In-Prozedur ab. Komplizierte Logistik.
Wir begeben uns ohne Plan Richtung innerer Stadt, einzig geleitet vom Wunsch, Zeugen davon zu werden, warum die Hauptstadt Österreichs regelmäßig die Listen mit Orten der höchsten Lebensqualität weltweit anführt. Am Verkehr kann es nicht liegen. Benzingeruch liegt in der Luft. Und Staub. Viel wird in der Peripherie rund um die innere Stadt gebaut.
In der inneren Stadt aber, da ist Wien wie Sachertorte, nur in weiß. Architektur aus Sahne, so kam es mir immer vor. Fassaden aus der Gründerzeit, glatt und fest wie Buttercreme, geschichtet mit Jugendstil, garniert mit etwas Barock. Das ist die Wiener Melange. Hier steigt der Insulinspiegel vor lauter Eyecandy schneller als man Mokka sagen kann oder Fiaker.
Ja ja, die Fiaker. Darf man die überhaupt noch mögen? Die Tiere davor blicken traurig drein. Deutet mein anthropomorphistischer Blick und wahrscheinlich tun sie es wirklich.
Freudlos
Dann doch lieber Mokka. Teuer ist er und nicht immer überzeugend. Die großen Wiener Kaffeehäuser, sie ersticken unter Touristenströmen und mit ihnen die Kaffeehauskultur. Sigmund Freud hätte im Café Central heute keine ruhige Minute mehr.
Vor Café Sacher drängen sich die Menschen. Jeder will Torte, sein Stück Wien. Dafür stehen sie an, werden vorne eingelassen, können 5 Minuten im gediegenen Ambiente schwelgen und sich vorstellen wie es wär, sie könnten länger verweilen. McSacher. Doch so wie die Fiaker wirkt das alles wie ein Anachronismus. Touristischer Manierismus, von der Erwartung erzwungen, es allen zu Hause und in der Welt zu zeigen. Schon werden Handys in die Luft gereckt und am langen Arm gehalten, alles sehr schnell, auf dass niemand an ihm verhungert, wo doch Süßspeise und die nächste Must-Be-Location schon warten.
Der Stephansdom ist alt und sieht gut aus, auch von innen. Das Hauptschiff zerteilt die Fußgängerpromenade wie der Bug das Wasser. Wir halten uns links. Unsere Blicke streifen viele, fraglos bedeutende Gebäude verklärter Epochen.
Vienna ventosa aut venenosa. Heute streicht glücklicherweise nur ein milder Wind durch Wiens überkandidelte Gassen. Wie es wohl war, in ärmster Armut der Pest ins eiternde Auge zu schauen, knietief in Fäkalien stehend, ohne Hoffnung Halt zu finden an den auf Prunk und Protz glattgeputzten Fassaden, die wie Sahne aussehen.
Ein später Kaffee
Bei Julius Meinl wird schon der Schwenkfilter geputzt. Wir werden trotzdem noch bedient. Ich frage mich, ob der Kaffee antiproportional zur verbleibenden Ladenöffnungszeit schmeckt.
Es ist mittlerweile dunkel geworden, was man daran erkennt, dass Wien die Kerzen auf der Torte angezündet hat. Alles strahlt, alles flackert. Vor der Hofburg, in der sich neben der berühmten Spanischen Hofreitschule auch das Sisi Museum befindet, gleich neben dem Billa Supermarkt, der auch berühmt ist, weil er für Österreich wie Aldi ist, den man hier Hofer nennt und keiner weiß, warum, stehen zwei Brunnen. Einer ist beleuchtet. Vielleicht will man sparen. Und vor dem Brunnen eine Person. Genaugenommen hockt sie mit übereinandergeschlagenen Beinen vor dem Wasser während im Hintergrund mythologische Wesen ineinanderverknotet den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse austragen. Einer von ihnen guckt böse auf die mit den übereinandergeschlagenen Beinen herab. Ich glaube, er ist ein Guter.
Eine weitere Person mit Kamera gibt Anweisungen und mal legt sich das linke über das rechte, dann wieder das rechte über das linke Bein. Das Kleid aus Tüll und Seide wellt kühl geschwungen um Beine aus Marmor. Das Lächeln wirkt verquollen als seien dem Bildhauer die Ideen ausgegangen oder als habe er auf die Tube drücken müssen.
So jung und schon ein Kunstwerk.
Wir suchen nach anderen Formen. Vor Sisi Museum und Hofreitschule blicke ich nach oben, während Iza die Intarsien bewundert. Wir hätten mal nach vorne schauen sollen. Wien ist Open-Air Museum mit Straßenverkehr. Keine Ahnung, wie lange der Taxifahrer dort schon wartet, und der dahinter. Wenn man leise hupen kann, dann hat dieser es drauf. Wir springen zur Seite. Der Taxifahrer lacht und wir müssen lachen. Der dahinter auch. In Wien gibt es keine Taxifahrer, aber Menschen, die als solche arbeiten.
Wir sparen uns die Sachertorte und greifen zur Mozartkugel. Die gibt es zwar überall auf der Welt und das Original nur in Salzburg von Fürst, aber was soll’s? Die Kugel als geodätisches Substitut, in der sich alles vereint.
„In a golden land of opportunity and adventure“
Ich gestehe, meine Kenntnis über fremde Länder und Städte basiert häufig auf Filmwissen und Establishing Shots. Dieses Mindmapping hat über die Jahre zu einer ansehnlichen Verdichtung von Klischeehaftem auf der Landkarte geführt. Das kann man ruhig wörtlich nehmen. Der Eiffelturm stand neben Notre-Dame und Triumphbogen bevor ich Paris bereiste, Big Ben irgendwo an der Themse aber mitten in der Baker-Street und Hollywood war Hauptstadt von Kalifornien. Noch heute stehen die Pyramiden mitten in Cairo gleich neben dem Parthenon in Athen und vor das Taj Mahal hat man einen langen Spiegel gelegt damit es auch in Hochformat schöne Fotos gibt.
Prater war für mich ein Riesenrad. Das kannte ich aus ‚The Living Daylights – Der Hauch des Todes‘. Hier hielt Orson Welles in ‚Der Dritte Mann‘ seine berühmte und vor laufender Kamera improvisierte Kuckucksuhrrede, stolperte dabei aber ebenfalls über Klischeewissen, behauptete er doch, die Uhren kämen aus der Schweiz. Halb so wild, der Schwarzwald liegt gleich daneben.
Prater bedeutet aber nicht nur Riesenrad. Prater ist ein größtenteils frei zugängliches Jahrmarktsgelände, das es schon seit einigen Jahrhunderten gibt. Ursprünglich ein Park mit Kaffeehäusern, später dann weiteren Attraktionen.
Und es liegt nicht mal so eben ‚in der Stadt‘.
26,7 km an diesem Tag.
Auf unserer Weiterfahrt nach Polen, durchqueren wir ein Land, auf das wir im weiteren Verlauf unserer Reise noch einmal zurückkommen werden. Mehr durch Zufall erfahren wir, dass auch in Tschechien die PKW-Mautpflicht existiert. Wir machen an der Grenze halt. In einer Holzbaracke kommunistischer Bauart erwartet uns eine österreichische Zöllnerin hinter Acrylglas. Alles ist hier irgendwie vergilbt. Vergilbte Vorhänge an vergilbten Fenstern, vergilbtes Papier im vergilbten Papierschacht eines vergilbten Laserdruckers. Blumen. Vergilbt und künstlich. Keine Pflanze hält sich hier. Der Aschenbecher ist randvoll und – natürlich – vergilbt. Ich bin schon froh, dass die Frau nicht lächelt. Stattdessen brummt sie etwas. Ich will darauf antworten, bis ich merke, dass sie mit einem Kollegen spricht. Hinter einem Aktenschrank brummt es zurück. Sie notiert sich unser Kennzeichen und wir zahlen am vergilbten EC-Terminal für unsere 10-Tages-Vignette.
„Toilette?“, fragen wir.
Sie knallt etwas auf den Tresen und schiebt es durch die Aussparung im Plexiglas. Ein winziger Schlüssel an einem Kantholz wie aus dem Baumarkt. Man hätte ja nicht gleich einen Baum dafür fällen müssen. Wer möchte so etwas klauen, an einer Grenze irgendwo zwischen Hier und Da?
Ich strecke meine Hand aus.
„Das macht um einen Euro“, bellt sie.
Und ziehe sie wieder zurück. Wortlos machen wir kehrt. 1 Euro? Nie! Wir halten durch.
Eine kolossale Fehleinschätzung!
Ende von Teil 1 …