Fiktion

Der schwere Rote

Wir wollten nur ein schönes Wochenende verbringen. Vor dem Kamin mit einem Glas in der Hand. Der Rote liegt hinten im Kofferraum zwischen meinem Rucksack und dem Koffer meiner Frau. Ausgezeichneter Jahrgang. Verlegen gluckst er bei jeder Kurve. Gerne hätte ich meinen Arm um ihn gelegt. Ein kräftiger, dick wie Öl, ein Schluck wie ein Biss in einen Holzsarg.

Jetzt stehe ich vor der Motorhaube mit dem Ölstab in der Hand und könnte mir in den Arsch beissen, dem Navi vertraut zu haben. Warum müssen diese verdammten Dörfer aber auch alle den gleichen Namen haben mit nichts mehr als 100 Kilometern dazwischen. Wer kommt auf so eine Idee? Gab es da vielleicht mal einen Streit in Folge dessen man ein Dorf in zwei Teile brach und sie irgendwo in dieses Ödland verfrachtete. Ich drehe mich um, schaue nach oben. Einzelne Sterne funkeln mich an. Die Luft riecht nach Elektrizität. Eine einzelne Straße, eine Kirche und ein Seitenstreifen auf dem wir geparkt haben. Sonst nichts und ich wollte nur schnell auf die Karte schauen. Sonst nichts. Hätte ich mal den Motor angelassen.

Das ist das falsche Dorf. Als mir das klar wird, trete ich die Kupplung, presse den ersten Gang rein und drehe den Zündschlüssel. Das einzige was anspringt, ist mein Blutdruck. Winzige LEDs des Cockpits spielen verrückt, als ob sie die Geburt des Heilands verkünden wollten. Bis Weihnachten sind es aber noch 6 Wochen auch wenn man mit hohlen Schokoladenfiguren allenthalben bombardiert wird, als gäbe es einen Krieg der Diabetiker zu gewinnen, wie jedes Jahr. Schön, spielt das Auto eben Weihnachtsbaum. Ich schalte den Wagen aus und versuche es erneut. Beim dritten Mal scheint mich das Auto zu verhöhnen. Ich fühle mich blöd und schaue in den Rückspiegel, als ob es da was zu sehen gäbe. Ich wage es nicht mit meiner Frau zu sprechen. Bravo, dass Auto hat es geschafft, dass ich mich für seine Unzulänglichkeiten schäme. Der Gedanke lässt meinen Blutdruck zu einem Tsunami ansteigen. Das wenige Blut schießt ungebremst durch meinen Kopf. Vielleicht bekomme ich einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt oder beides. Unsinn, sowas bekomme ich nicht. Ich und meine Panikattacke müssen hier schleunigst raus. Bei Aussteigen verheddert sich mein Mantel in der Tür. Es ist dunkel und kalt, aber ich stürze nicht. Ich klopfe mir die Ungeschicklichkeit aus dem Stoff und schaue besorgt. Woher ich das weiß? Als ich mein Handy anschalte um die Taschenlampe anzuschalten, sehe ich den niedrigen Akkustand und dass die Frontkamera vom letzten Selfie aktiviert ist. Ok, ich gucke blöde und bin umso erschrockener als ich mich nie in Spiegeln ansehe.

Ich stehe vor dem Herzen meines Autos und stochere mit dem Ölstab herum als wolle ich einen Bypass legen. Ein Käuzchen schreit oder eine Eule, ein ausgewachsener Uhu. Verdammt, was weiß ich?

Meine Frau ist im Auto geblieben. Ihr Blick durchlöchert Blech und Stolz. Ich denke an den Kamin, an den Roten in unseren Händen und hab stattdessen nur Öl an meinen. Und wofür? Es muss die Batterie sein. Denk nach. Einatmen, bis 3 zählen, ausatmen. Ha, Atmen ist gut. Im Grunde habe ich nur ein Programm abgespult. Der Wagen bleibt liegen, also kontrolliert man den Ölstand. So machen sie es im Fernsehen. Die Kälte kriecht mir unter den Mantel und die Erkenntnis, dass egal, was es ist, wir die Nacht hier verbringen müssen.

Wir haben noch Decken im Kofferraum und den schweren Roten. Wir könnten ihn gleich hier und jetzt köpfen.

Meine Gedanken hellen sich auf als plötzlich etwas kichert. Erst ganz leise. Ich habe ein ausgezeichnetes Gehör. Dann lauter. Ich schaue zur Kirche. Ich hasse Kirchen. Die Holztür schwingt auf und drei finstere Gestalten kommen heraus. Wir wollten nur ein nettes Wochenende in einem kleinen polnischen Dorf verbringen, schießt es mir durch den Kopf. Ich denke an den schweren Roten im Kofferraum. Aus der Traum. Ich zittere und weiß, es ist nicht die Kälte. 30 km hinter Berlin, Lichtjahre von der Zivilisation entfernt, wird das unser Ende sein. Sie haben uns gesehen. Immer wieder dieses Gekicher.

Rot glimmende Gesichter wie Denkmäler in der Nacht. Die Zigaretten hängen ihnen lässig im Mundwinkel. Nachts kann ich ziemlich gut sehen.
Ich habe keine Angst.
Ich habe keine Angst.
Ich habe Angst!
Eine Hand auf meiner Schulter und eine Stimme in meinem Ohr. Ich zucke zusammen.

„Hast Du Angst“, fragt sie mich.
Ich nicke schüttelnd den Kopf.
„Bleib ruhig, die Jungs wollen uns sicher nur helfen“, erwidert meine Frau.

Inzwischen haben sich ‚die Jungs‘ bis auf wenige Meter genähert. Einer von ihnen trägt blonde Strähnchen. Blondchen fragt etwas auf polnisch. Meine Frau übernimmt das Verstehen für mich. Auch das Reden. So stehen wir da wie Verschwörer um ein nächtliches Lagerfeuer und reiben uns die Hände – das Feuer müssen wir uns denken – drei Denkmäler, meine Frau und ich, und langsam frage ich mich, wohin das alles führen soll. Zwischendurch blicken sich die drei steinern an. Dann verschwinden sie.

„Sie holen einen Wagen um uns zu überbrücken“, erklärt meine Frau.
„Sie werden Mordwerkzeug holen“, antworte ich und schaue nervös auf meine Uhr. Halb 4. Ungefähr 3 1/2 Stunden bis Sonnenaufgang.
„Nur ihr Auto und ein Kabel.“
„Um uns zu fesseln. Tot und Mordschlag wird es geben.“
„Mord und Totschlag“, korrigiert mich meine Frau und lacht grausam.
„Siehst Du, jetzt denkst auch Du schon so.“

Ich ärgere mich über mein Zittern in der Stimme. Meine Frau zittert nie. Ich habe immer gedacht, ich hätte etwas ihrer Energie übernommen, nachdem wir uns damals trafen. Irgendwie bin ich nur bleicher geworden. Unsere Beziehung hatte mich ausgemergelt, ruhelos gemacht. Schwer zu sagen. Ich erinnere mich noch, wie ich die Stufen hinunter nahm. Ein schmaler schwarzer Gang gegen die eine einsame Glühbirne einen aussichtslosen Kampf focht. Schon beim Betreten des Clubs pumpte einen der Bass einen Pesthauch entgegen wie ein Hund der röchelnd im Sterben liegt. Innen kondensiert Schweiß und rinnt von den Wänden. Alles klebt. Beim Anheben der Gläser muss man sie leicht kippen. Meine Hände liegen auf meinen Oberschenkeln um so wenig wie möglich zu berühren. Der Geruch von Urin liegt in der Luft. Auf der Toilette kommt noch der von Gras dazu. Eine Hand packt mich an der Schulter.
„Hast Du Angst?“
Ich drehe mich um. Eine Frau steht vor mir. Schlank, lange schwarze Haare und zu hübsch als das sie mich meinen könnte. Ich irre.
Wir tanzen, sie küsst mich und wir verlassen den Laden.
Sie ist nicht gerade eine, die man als Vegetarierin bezeichnen würde. Ich esse einen Döner, sie zwei, und ich wette sie verzichtet nur aus Anstand auf den dritten. Wenn sie geht, scheint sie den Boden nicht zu berühren. Ich trete in jede Pfütze. Sie lacht und die ganze Zeit sehe ich nur ihre verführerischen dunklen Augen leuchten.
Die Kurzform? Ich verfalle ihr, wir ziehen zusammen, heiraten und werden vom Alltag verschluckt. Doch ich liebe sie. Sie liebt mich, behauptet sie. Trotzdem habe ich nach drei Jahren das Gefühl, dass ein wenig Pepp nicht schaden könnte. Deshalb also dieses Wochenende in Polen. Ich besorge uns den schweren Roten, packe unsere Sachen und schmeiße alles in den Kofferraum.

Und jetzt stehen wir hier und warten auf drei finstere Denkmäler, von der nur meine Frau überzeugt ist, dass sie uns helfen werden.
„Die sahen irgendwie so bleich aus. Vielleicht sind das Junkies.“
„Die Jungs? Wie sollten die hier wohl an Drogen kommen?“
„Vielleicht schnüffeln sie Klebstoff. Hast Du gesehen, wie der eine Dich von oben bis unten angeschaut hat?“
„Da hast Du es. Drogen machen nicht geil. Außerdem, warum sollte ich mit diesen Jungs nicht fertig werden?“
„Weil ‚diese Jungs‘ vielleicht gerade Verstärkung holen. Ich hab gesehen, wie sie in die Kirche gegangen sind.“
„Um was zu tun? Den Pfarrer zu holen, der jetzt um kurz vor 3 dort in seiner Kanzel hockt um das Blut Christi zu trinken?“, sagt meine Frau und ihre Augen leuchten wie damals.
„Kurz vor 4“, korrigiere ich sie.
„Sieh dich mal um. Es ist kalt, hier ist nichts los. Die haben da gesessen und vielleicht selbst den Messwein getrunken um sich ein bisschen aufzuwärmen. Da haben sie uns gehört und wollten gucken, was hier los ist. Jetzt holen sie ihre Sachen.“
In diesem Moment höre ich einen Motor rostig aufschreien. Kurze Zeit später biegt auch schon ein alter Opel um die sinister angeleuchtete Mauer der Hauptschiffs. Der Innenraum der Rostlaube leuchtet rot. ‚Diese Jungs‘ sind tatsächlich zurück. Wahrscheinlich wollen sie uns packen und in den Kofferraum werfen.
Der Wagen fährt langsam wie ein Leichenzug die Straße herab und bleibt quietschend auf Höhe unseres Wagens stehen. Blondchen kurbelt das Fenster herunter und hält prüfend Nase und Glimmstengel in die Luft.
„Jetzt checkt er, ob wir wirklich alleine sind“, flüstere ich meiner Frau zu.
Sie knufft mich in die Seite.
Er zieht den Kopf wieder herein und dreht so bei, dass beide Motorhauben nebeneinander stehen.

Die Türen gehen synchron auf. Die drei Jungs treten gleichzeitig auf die Straße. Ich bemerke wieder, wie bleich sie sind, ‚diese Lost Boys‘. Ich verschränke die Arme und rücke näher zu meiner Frau. Lässig umrundet Blondchen die Rückseite des Opels. Zwei, dreimal haut der mit der flachen Hand auf den Kaufferaumdeckel bevor dieser knarrend aufschnappt. Während es hinten scheppert, rasselt und klappert, bleiben die anderen beiden Jungs bei ihren Türen. Blondchen sagt etwas, was meine Frau nicht zu übersetzen braucht. Trotzdem klingt sein Fluchen aufgesetzt. Sein Kopf kommt hinter dem Kofferaumdeckel hervor. Wieder sagt er was.
„Er hat kein Starterkabel“, übersetzt meine Frau. „Wenn wir wollen, können wir selbst mal nachschauen.“ Einer der beiden im Hintergrund kichert.
„Auf keinen Fall“, sage ich eine Spur zu hysterisch.
Mein Augenlid beginnt zu zittern oder vielleicht hat es das schon die ganze Zeit getan, aber ich merke es erst jetzt.
Wieder kichert einer der Jungs.
„Und er soll damit aufhören.“ Meine Stimme überschlägt sich.
Meine Frau sagt etwas auf polnisch, aber nicht das, was ich meinte. Blondchen antwortet.
„Wir sollen mal bei uns schauen, ob wir eins haben.“
„Ich werde doch jetzt nicht nach hinten gehen und unseren Kofferraum öffnen.“
„Beruhige Dich.“ Sanft streicht sie mir über den Arm und plötzlich friere ich nicht mehr. „Alles wird gut.“
Und mir wird wieder klar, dass wir das nicht brauchen. Zu frieren. Alleine meine Angst lässt diese Empfindung zu.
Ich habe mich unter Kontrolle. Mit einem Kopfnicken deute ich Blondchen, mir zu meinem Kofferraum zu folgen.
„Ich bleibe hier und gebe auf die beiden anderen acht“, flüstert meine Frau. Ihre Augen leuchten, ihre Lippen glänzen.
Als der Kofferraum aufspringt, schaue ich wehmütig auf den schweren Roten. Dort liegt er und erinnert mich an ein Wochenende mit meiner Frau vor einem Kamin an einem guten Tropfen nippend. Ein Wochenende, das nicht sein sollte.
Blondchen neben mir schreit auf. Ich reisse den Deckel herunter und quetsche seine Hände. Der schwere Rote von dem Geschrei zur Besinnung gekommen, schreit mit. Der Knebel hat sich ein wenig gelöst. Im Hintergrund höre ich ein Gurgeln wie von einem klaren Bach. Es ist meine Frau. Nicht gerade das, was man eine Vegetariern nennen würde. Dem ersten hat sie die Kehle mit ihren scharfen Zähnen durchtrennt. Die Zigarette schwimmt wie ein Bötchen auf dem roten Rinnsal davon. Der zweite will fliehen, kommt jedoch nicht weit. Mit einem Sprung über dem Wagen packt meine Frau ihn an den Schultern und wirft ihn auf den Asphalt. Es knackt, wie wenn man in einen Apfel beisst und das Genick ist durch. Eine grausame Furie ist sie. In diesem Moment bin ich furchtbar stolz auf sie.

Aber ich bin auch nicht untätig. Ich schnappe mir Blondchen und stoße Fluor, Phosphat und Kalzium in seinen Hals. Ein warmer Schluck aus seiner Arterie bringt meine Geister zurück. Der Rote im Kofferraum, den ich für unseren gemütlichen Abend vor dem Kamin ‚besorgt‘ habe, scheint einen Schock zu erleiden. Zu blöd, zu viel Adrenalin lässt das Blut übersäuern. Dabei hatte ich mir soviel Mühe gegeben. Er war für unseren Hochzeitstag gedacht. In der Apotheke hatte ich mir Chloroform besorgt und dann in einer einsamen Gasse auf ihn gewartet. Ein waschechter Ire, rosiger Teint, Typ Berufstrinker und Stammkunde des Irish-Pubs, in den es uns seit einiger Zeit immer häufiger zog, nachdem meine Frau den dicken Rotschopf eines Nachts an der Theke bei seiner Lieblingsbeschäftigung entdeckt hatte. Jeden Abend trank er fünf Whisky und verabschiedete sich dann. Eines Nachts folgte ich ihm. Er sah mich nicht. Eines der Vorzüge, wenn einem die Nacht gehört. Es gibt Trinker, die sollte man meiden und solche, die einen besonderen Ruf in unserer Gesellschaft genießen. Das Blut des Whisky-Trinkers ist wie Wein aus einem Sherryfass. Dem Dicken zu folgen war nicht schwer, denn auch ohne in seiner Sichtweite zu bleiben, konnte ich die Schlieren des Alkohols seinen Zickzackkurs durch die Nachtluft markieren sehen. Ein weiterer Vorzug unseres Standes.
Ein guter Jahrgang, dieser schwere Rote. 120 Kilo Lebendgewicht und etwa Mitte 50. Nicht besonders reinlich, schon. Einmal in der Woche duschen und dann wahrscheinlich nur um nüchtern zu werden und zweimal die Unterhosen wechseln. Ich habe es immer bedauert, dass mein Geruchsinn, nachdem meine Frau und ich uns näher kennengelernt hatten, so stark zugenommen hatte.

Und dann ist wieder alles still. Das Käuzchen schreit oder eine Eule, ein Uhu. Ich weiß es immer noch nicht. Ich schaue auf meine Uhr und den Horizont im Osten. Jetzt muss alles schnell gehen. Wir saugen noch etwas an ‚diesen Jungs‘. Ich nehme Blondchen und lege ihn in den Kofferraum.
„Das gibt’s ja nicht“, rufe ich, „Guck mal.“ Triumphierend halte ich das Überbrückungskabel in die Luft.
Meine Frau lächelt. Die beiden anderen Jungs werfen wir in den Graben.

Im Rückspiegel sehe ich den Opel kleiner werden. Mich sehe ich nicht. Noch ein Vorzug.
„Glaubst Du“, ich zögere.
„Vielleicht“, sagt meine Frau. „Es ist Neumond.“
Ich nicke. An Neumond gibt ein Biss das Virus weiter. Irgendwie können wir stolz auf uns sein. Eltern dreier strammer Jungs. Sie werden ihr altes Leben schnell vergessen.
„Was ist mit den zweien im Graben? Die Sonne wird sie verbrennen.“
„Nicht sofort. Das Virus braucht ein paar Tage. Bis dahin haben ‚diese Jungs‘ den Dreh raus. In die Kirche werden sie auf jeden Fall nicht mehr gehen.“

Ich schaue auf meine Uhr und drück aufs Gaspedal. Im Kofferraum gluckst der Rote wieder.
„4 Uhr. Es bleibt noch Zeit, den Roten zu köpfen“, sagt meine Frau und ihre Augen leuchten.

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